Frau im Schatten
Foto: Getty Images

Die Nadel. Über den freien Fall zwischen Untersuchung und Diagnose

Eine ärztliche Diagnose kann einem den Boden unter den Füßen wegziehen - wenn sie denn kommt. Das Warten, Dr. Google und kaputte Nervenkostüme – unsere Autorin Fiona Rohde hat versucht, all das in Worte zu fassen.

1. Die Nadel

Die Nadel ist lang und breit. Ich schaue weg. Sehe den Schrank mit der Glastür und dem verpackten Verbandsmaterial. Es ist kühl im Raum und ich höre die Stimmen hinter mir. Wie ein Igel habe ich mich um das Gerät geschlungen, damit die Position stimmt. Seitlich leuchtet das Röntgenlicht auf. Mehrfach. Der Arm beginnt unkontrolliert zu zucken, mein Nacken schmerzt. Die Hüfte auch. Nicht bewegen. Atmen. 

Im Vorraum sitzt meine Begleitung. Sichtlich mitgenommen. So wie ich auch. Ich zwinge mich zu lächeln. Was jetzt auch gelingt, da das Adrenalin in den Körper strömt. Raus. Kaffee trinken. Reden.

Während die Kommunikation mit den Menschen um ich herum stetig zunimmt, bleibt andere Kommunikation ein rares Gut. Die, auf die man so dringend wartet. Die einen zermürbt. Die dann auch meist kurz ist. Mit vielen Worten, die man nicht versteht. 

Dr. Google ist eine dumme Idee. Dennoch tippe ich Worte ins Suchfeld, die mir Angst machen. Möchte ich das alles wissen? 

Hier steht zumindest, dass das Warten auf ein Ergebnis etwas mit einem macht. Eine zusätzliche Belastung darstellt. Was da so clean steht, ist längst real. Eine Woche warten. Das Institut ein Bollwerk. Innen die Information, ich davor. 

Ich mache Witze über gehäkelte Nervenkostüme, die ich mir immer wieder neu basteln muss. Ich mache sowieso zunehmend mehr Witze, je nervöser ich werde. Das bringt die Tage dazu, schneller zu vergehen. So der Plan. Der nicht funktioniert. 

Als dann der Arzt anruft, sagt er viele Dinge. Ich schreibe Steno mit. Fast wörtlich, damit ich auch bloß keine Information vergesse. „Wenn Sie noch Fragen haben, melden Sie sich gern.“ Ich lege auf. 

Am Folgetag hole ich zwei Umschläge ab. Einer ist für mich. Ich sitze in der Sonne mit ihm und trinke wieder Kaffee, während ich den Umschlag vorsichtig öffne und auf die Zeilen starre. Zahlen, Buchstaben. Ergebnisse, die wieder nur neue Fragen aufwerfen. Gerade etwas sinnfrei.

Wenn sich alle Fragen im Kopf zu einem chaotischen Haufen formieren, kann man keine einzige mehr stellen. Es fühlt sich an wie früher der Bandsalat von Kassetten. Wenn man einen Bleistift in eine der Öffnungen steckt, kann man das Band vorsichtig wieder aufdrehen. Das tue ich die nächsten Tage. 

Die Fragen sind immer noch da, und die Bollwerke. Und die Tage, die entweder rasen oder nicht vorbeigehen wollen. Ich lerne, dass wir alle unterschiedlich sind, jetzt. Dass das ständige Nachdenken und Suchen nach Information hilfreich sein kann. Aber auch total kontraproduktiv. Dass man Menschen um sich herum überfordern kann. Dass man Hilfe ebenso wie Information dosieren muss. Weil da noch ein Weg vor einem liegt. 

„Ich wünsche Ihnen alles Gute“, höre ich ab jetzt sehr oft. Das fällt auf. 

Wenn sich alle Fragen im Kopf zu einem chaotischen Haufen formieren, kann man keine einzige mehr stellen.

2. Die Röhre

Ich spüre, wie die Nadel auf der anderen Seite meiner Vene die Wand berührt. Ich bilde mir ein, dass ich den Ellbogen auf keinen Fall knicken darf. Bewege den Arm, als sei er aus Holz. „Jetzt benutzen Sie doch bitte den Arm ganz normal.“ Die Krankenschwester wirkt genervt. Das Gefühl macht sich breit, so wie damals als Schulkind. Wenn man gesagt bekommt, dass man etwas Falsches gesagt hat. 

Ich trage eines dieser unsäglich gemusterten OP-Hemdchen. Vorne offen. Zwei Schleifen. Seltsame Karos in hellblau. Die Schleifen sind schief. Schließlich war der Arm ja aus Holz. Jetzt beuge ich ihn und steige umständlich auf die Liege. 

Wollen Sie eine Decke? Bitte ganz normal weiteratmen. Bitte den Kopf hier in die Mulde. Bitte die Arme entspannt an die Seite. Man drückt mir einen länglichen Gummiball in die Hand. Der Notfallknopf. Den kenne ich schon. 

Decken werden über mich gelegt, der Kopfhörer auf die Ohren gesetzt und dann bewegt sich die Liege rückwärts in den gefürchteten Tunnel. Es ist gleißend weißes Licht. Ich starre auf die Plastikabdeckung unter meinem Gesicht. 

Zum Rhythmus des Geräts gehe ich Tanzschritte durch. Nach 18 Minuten habe ich die Choreografie unzählige Male im Kopf durchgetanzt. 

Ich schließe mein Fahrradschloss auf. Es ist Spätsommer und die Sonne legt sich warm auf die Haut. Ein Ergebnis gibt es auch dieses Mal nicht. Rufen Sie nachmittags an. Wann ist nachmittags? 

Ja. Dr. Google hat recht. Das Warten macht was mit einem.

Dieser Text erschien erstmals im Voices Newsletter, für den ihr euch HIER anmelden könnt – dann liegt der Newsletter jeden Mittwoch in eurem E-Mail-Postfach

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