„Heutzutage werden ja so viele Ehen geschieden – die jungen Leute geben so schnell auf!“, beklagte kürzlich eine ältere Bekannte. Tut mir leid, ich kann das nicht schlimm finden.
Die Scheidungsrate hat sich seit 1960 vervierfacht
Ja, es ist richtig, die Scheidungsrate in Deutschland ist hoch. Deutlich höher als „früher“. Wobei sie in letzter Zeit eher wieder sinkt, 2016 lag sie bei 39,56 Prozent, auf eine Ehe kommen also 0,4 Scheidungen. Im Vergleich zum Rekordhoch von über 51 Prozent im Jahr 2005 „verbessern” wir uns also gerade wieder. Vergleicht man die Rate allerdings mit früheren Jahrzehnten, wird eine deutliche Steigerung sichtbar: 1960 waren wir noch bei nur etwas über 10 Prozent, 1970 bei 18 Prozent.
So mancher interpretiert das als Verfall der Sitten, als Zeichen der Flatterhaftigkeit und Bindungsunfähigkeit der modernen Gesellschaft, als mangelndes Stehvermögen und mangelnde Leidensfähigkeit, die Unfähigkeit, sich auch einmal durchzubeißen und schwere Zeiten mitzumachen, es wird gespottet über die modernen „Lebensabschnittspartner*innen“ und den Unwillen zur festen Bindung und Beziehung durch dick und dünn. Mag sein, dass all das eine Rolle spielt. Vielleicht geben wir heute zu früh auf. Aber es tut mir leid, ich kann trotzdem nicht verstehen, dass man sich die guten alten Zeiten zurückwünscht. Denn, sorry, so gut wie es oft dargestellt wird, war es schließlich gar nicht.
Ehen hielten früher nicht aus Liebe länger
Warum hielten so viele Ehen denn in den 50ern, 60ern, 70ern so lange? Auch weil sie mussten. Ob sie alle so furchtbar glücklich waren, sei dahingestellt. Aber welche Optionen hatte man denn? Geschieden zu sein war ein Stigma, bis 1977 gab es bei der Scheidung noch die Schuldfrage zu klären. Meine Mutter erzählte mir immer, wie untröstlich ihre Schwiegermutter war, dass mein Onkel eine „schuldig Geschiedene“ heiraten wollte. Gott sei Dank erwies sich die Betreffende als brave und tüchtige schwäbische Hausfrau, das rehabilitierte sie dann irgendwann und man verzieh ihr den Liebhaber von damals, der ihre Ehe zum Scheitern gebracht hatte. Prinzipiell aber hatte man als Geschiedener, und speziell als geschiedene Frau, nicht viel zu lachen. Die Schuld am Scheitern der Ehe wurde gerne den Frauen in die Schuhe geschoben.
Überhaupt ist mein Eindruck aus all den Büchern, die ich zum Thema gelesen habe, all den Geschichten, die ich von Zeitzeugen gehört habe, dass die dauerhaften Ehen früherer Jahrzehnte zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf den Rücken der Frauen ausgetragen wurden. Und da rede ich jetzt nicht nur von Gewalt in der Ehe, die es heute wie damals gibt und gab. Häufig waren die Frauen wirtschaftlich komplett abhängig von ihren Männern, eine Scheidung kam oft schon aus diesem Grund gar nicht infrage und vieles musste eben einfach ertragen werden. Von erfüllter und liebevoller Beziehung war in einem guten Teil der Ehen keine Rede – viele waren reine Zweckgemeinschaften, man „schirrte halt zusammen”, wie man in meiner Heimat sagt, man zog es durch, man nahm das Leben halt gemeinsam in Angriff.
Wie viele Frauen frustriert und depressiv waren durch das reine Hausfrauen- und Mutterdasein, die Abhängigkeit, die mangelnde Anerkennung, lässt sich nur vermuten, es gibt Hinweise, dass Frauen „unauffällige“ Süchte pflegten oder medikamentös gegen „Nervenkrankheiten“ behandelt wurden. Ehen wurden oft ertragen – wie sagte man doch so schön: „Das Leben einer Frau fängt an, wenn der Mann tot ist und die Kinder aus dem Haus sind.“ Plakativ – aber es steckt Wahrheit drin.
Heute bedeutet Ehe etwas anderes
Im 21. Jahrhundert haben Menschen, und vor allem Frauen, andere Vorstellungen von der Partnerschaft. Sie wollen gleichberechtigt sein, wollen ihren Beruf ausüben, nicht einen der Beteiligten (meist eben die Frau) auf ein Dasein zuhause reduzieren, wünschen sich eine erfüllte und liebevolle Partnerschaft auf Augenhöhe. Das Beziehungsleben ist schwieriger geworden – unsere Ansprüche sind höher, und damit muss zwangsläufig auch die Quote derer, die daran scheitern, ansteigen.
Natürlich ist es schade, wenn der Traum vom gemeinsamen Leben und der großen, lebenslangen Liebe in die Brüche geht. Das will ich überhaupt nicht schönreden. Aber ich bin andererseits ein großer Verfechter des Prinzips, getrennte Wege zu gehen, wenn ein gemeinsamer nicht mehr funktioniert. Ich erinnere mich noch, dass ein sehr christlicher Jugendfreund von mir immer die Unauflöslichkeit der Ehe propagierte – die Antwort darauf, was sein Gott eigentlich davon habe, wenn Menschen, die nicht miteinander zurechtkommen, zusammenbleiben, blieb er mir immer schuldig.
Ich bin sicher nicht dafür, bei jeder Unstimmigkeit die Flinte ins Korn zu werfen – kann mir aber gleichzeitig nicht vorstellen, dass das bei der Mehrheit der Scheidungen der Fall ist. Wer heiratet, tut das gemeinhin, weil er mit dem anderen Menschen alt werden will. Sonst könnte er heutzutage ja auch ohne Trauschein mit demjenigen zusammenleben, ohne dadurch sozialen Selbstmord zu begehen (ob die Ehe als Institution überhaupt noch sinnvoll ist, lassen wir mal außen vor). Bevor man diese Verbindung wieder auflöst (was ja auch nicht ohne Aufwand möglichst ist), wird man üblicherweise doch nachdenken, ob es nicht noch einen gemeinsamen Weg gibt.
Warum soll man zusammen bleiben, wenn man unglücklich ist
Aber wenn dieser gemeinsame Weg nicht mehr möglich scheint, sollen sich die Menschen doch bitte trennen, anstatt sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen. Auch wenn Kinder da sind – diese bekommen die Unstimmigkeiten doch mit, auch wenn man nicht vor ihnen streitet.
Die Beschreibung „Lebensabschnittsgefährte“ ist häufig Zielscheibe des Spottes. Ich finde die Bezeichnung gar nicht so blöd. Menschen verändern sich im Lauf des Lebens sehr stark. Ich bin heute ein ganz anderer Mensch als mit 15, 25 oder 30. Manche Menschen haben Glück, so wie meine Eltern, die 50 glückliche Jahre miteinander verbracht haben und sich bis zum Ende geliebt haben – sie haben sich weiterentwickelt, jeder für sich, sind aber im Großen und Ganzen in die gleiche Richtung gegangen und haben die Stürme, die ihre Beziehung trafen, gemeinsam überstanden. Das Glück hat nicht jeder. Manchmal entwickelt man sich eben voneinander weg, ohne dass irgendjemand eine Schuld im klassischen Sinne trifft, und irgendwann kann man keine Brücken mehr bauen.
Manchmal ist es eben Zeit, getrennte Wege zu gehen
So ging es mir mit einer Ex-Beziehung. Ich hatte das Gefühl, er enge mich ein und halte mich zurück, er fühlte sich unter Druck gesetzt und von mir getrieben, unsere individuellen Charakterzüge hatten sich über die Jahre bis zu einem Punkt verstärkt, an dem wir nicht mehr zusammenpassten. Ist es so absurd, dass man in unterschiedlichen Phasen des Lebens mit unterschiedlichen Menschen glücklich ist? Ist es verwerflich, dass man eine*n passende*n Partner*in haben will? Für mich nicht.
Ich kann an der hohen Scheidungsrate weder einen Sittenverfall, noch ein Drama erkennen. Natürlich wäre es mir lieber, all den Menschen, die glücklich und verliebt vor den Traualtar oder Standesbeamten treten, wäre ein Happy End beschieden. Aber ich finde es völlig in Ordnung, wenn man eine Lebenssituation, die den Beteiligten nicht mehr gerecht wird, auflöst. Tausendmal besser jedenfalls, als notgedrungen die Sache bis zum (bitteren) Ende durchzuziehen. Eine hohe Scheidungsrate? Wenn dabei am Ende mehr glückliche Menschen rauskommen, dann hat die Sache meinen Segen.
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