Foto: Chet Tilokani

Julia Shaw: „Wir können unseren Erinnerungen nicht trauen“

Die gebürtige 
Kölnerin Julia Shaw ist Kriminalpsychologin. 
In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit falschen Erinnerungen und 
deren Auswirkungen auf unser Leben. Anika Kraatz hat die Wissenschaftlerin für unseren Partner Allegra getroffen.

 

Ab wann können wir unser Leben erinnern?

Die Kriminalpsychologin Julia Shaw erforscht, wie sich Menschen erinnern und wie falsche Erinnerungen entstehen. Im Interview mit Allegra erklärt die Deutsch-Kanadiern, warum Lügen und sich falsch erinnern sich unterscheiden, ab wann Kindern Erinnerungen haben können und was eigentlich real ist, wenn Erinnerungen sich verändern.

Frau Shaw, was verstehen Sie unter einer „falschen“ Erinnerung?

„Wenn man glaubt, Dinge erlebt zu haben, die nicht oder nicht so passiert sind. Das können Teile eines Erlebnisses sein, in etwa, wie man von einem Ort zum anderen gekommen ist. Es kann aber zum Beispiel auch eine ganze Kindheitserinnerung sein. Das passiert oft, wenn man Geschwister hat. Die Eltern sagen: ,Du warst mit uns in Disneyland‘, und man glaubt das jahrelang. Man meint, sich daran zu erinnern. Das ist ja das Interessante! Man stellt sich richtig vor, wie das war. Irgendwann kommt heraus, dass nicht man selbst, sondern die Schwester dabei war und die Eltern das einfach nur verwechselt haben. Man hat das Erlebnis aber in den eigenen Lebenslauf eingebaut.“

Für eine Studie haben Sie Probanden eingeredet, dass sie in ihrer Jugend Straftaten begangen haben. Wie haben Sie das geschafft?

„Ich habe bei den Eltern meiner Probanden vorher Dinge abgefragt wie: der beste Jugendfreund, der Wohnort und ein echtes emotionales Erlebnis. Im Labor habe ich die Probanden dann nach diesem echten Erlebnis gefragt und sie von dieser Erinnerung erzählen lassen. Danach erwähnte ich, dass ihre Eltern noch eine weitere Erinnerung haben, und zwar die, dass die Probanden eine Straftat be­gangen haben. Das waren schwerwiegende Dinge wie Diebstahl oder Totschlag. Zusätzlich habe ich auch den Namen des besten Freundes und der Heimat­stadt in meine Erzählung eingeflochten.“

Wie haben die Menschen darauf reagiert? 

Die erste Reaktion war natürlich: „Häh, über was reden Sie da?“ Dann habe ich erklärt, dass es ganz normal sei, sich nicht sofort zu erinnern, vor allem nicht an negative Ereignisse, und ich machte mit ihnen eine Visualisierungsübung. Sie sollten sich vorstellen, wie es denn gewesen wäre, hätten sie diese Straftat wirklich begangen. Was sie gesehen, gehört, gerochen haben. Nach drei Treffen innerhalb von drei Wochen haben sie mir dann die Straftat beschrieben, auch, was sie dabei empfunden haben. 70 Prozent der Probanden meinten später, dass sich die Erinnerung echt angefühlt hätte. Soweit wir wissen, werden solche Erinnerungen dann zur eigenen Realität.“

Hatten Sie kein schlechtes Gewissen, den Menschen falsche Erinnerungen einzupflanzen?

„Nein. Wir pflanzen aus Versehen ganz oft falsche Erinnerungen in unser Gegenüber ein.

Diese Methode wird auch in der Psychotherapie angewandt. Was passiert da genau?

„Meine Vorstellungstechnik kommt ja ursprünglich aus der Psychoanalyse. Der Patient stellt sich ­ge­nau vor, wie etwas passiert ist. Das ist nicht nur problematisch, weil dabei falsche Erinnerungen ent­stehen können, sondern weil schreckliche falsche Erinnerungen entstehen können. In der Psychoanalyse geht man teilweise davon aus, dass die Ursache von psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Schizophrenie in der Kindheit liegt und dort ein Trauma erlebt worden sein muss. Dann gräbt man nach irgendwelchen Erinnerungen. Unkritische Therapeuten tragen leider dazu bei, dass sich Pseudo-Erinnerungen manifestieren.“

Das heißt, man könnte diese Methode auch als Waffe einsetzen, um Menschen zu manipulieren?

„Man kann alles, was erforscht wird, auch für schlechte Zwecke verwenden. Da ist das hier sicher keine Ausnahme.“ 

Sie unterrichten Kriminologie in Kombination mit Psychologie in London. Welche Rolle spielen Erinnerungen in diesem Bereich?

„Es geht hauptsächlich darum, zu ergründen, wa­rum bestimmte Straftaten begangen werden und warum Menschen überhaupt kriminell werden. In meinem Kurs ,Evil‘ beschäftigen wir uns mit Psychopathen, Mördern, Pädophilen und Terro­­­risten und fragen uns: Wieso machen die das? Hier spielt Identität eine Rolle, und die wird durch das Gedächtnis beeinflusst, durch die Dinge, die man glaubt, schon mal gemacht zu haben. Man glaubt, wer man ist. In meiner Forschung geht es darum, ob man Menschen einreden kann, dass sie kriminelle Entscheidungen in der Vergangenheit getroffen haben. Und ob sie dann als Konsequenz in der Zukunft vielleicht eher dazu bereit sind, eine Straftat zu begehen.“

„Autobiografische Erinnerungen an Ereignisse vor dem zweiten ­Lebensjahr sind nicht möglich. Das nennt man Kindheitsamnesie.“

Man entscheidet sich also bewusst dafür, etwas Böses zu tun

„Ja. Die Gerichte gehen davon aus, dass wir alle individuelle Menschen sind, die ihre Entscheidungen treffen können und das auch rational tun. Aber die Situation ist dafür ausschlaggebend, wie man sich entscheidet. Und vor allem der eigene Glaube. Wenn man glaubt, dass man Gewalt bevorzugt, dann wird man sich auch eher in einer Situation wiederfinden, in der man gewalttätig wird.“

Auch bei Gerichtsverhandlungen spielen Erin­ne­rungen eine Rolle. Wie beurteilen Sie das? 

„Zeugenaussagen sind problematisch, weil sich falsche Erinnerungen einschleichen können. Man ist sich dessen aber nicht bewusst. In einem Prozess können dadurch Unschuldige verurteilt werden. Die Zeugen sind mit ihren Aussagen zwar meistens sehr nah am wirklichen Geschehen, aber grundsätzlich gibt es für mich einen begründeten Zweifel an jeder Zeugenaussage, vor allem wenn es keine weiteren Beweismittel gibt.“

Was, wenn es mehrere Zeugenaussagen gibt?

„Das macht es nicht besser. Außer die Zeugen haben vorher noch nie miteinander gesprochen. Wenn sie dann das Gleiche aussagen würden, wäre das ein Indiz dafür, dass die Erinnerung stimmt.“

Wenn unsere Erinnerungen so beeinflussbar  sind, was bedeutet das für die Rechtsprechung? 

„Ich möchte, dass Juristen, Anwälte und Richter verstehen, dass man seinen Erinnerungen nicht trauen kann und dass man sogar die eigenen falschen und echten Erinnerungen nicht unterscheiden kann. Eine falsche Erinnerung ist aber nicht dasselbe wie eine Lüge. Eine falsche Erinnerung ist ein passiver Prozess, lügen ist aktiv. Vor Gericht hat das natürlich die gleiche Auswirkung: Die Aussage stimmt nicht.“

Sie sind auch für die Bundeswehr tätig. Was machen Sie dort genau? 

„Ich arbeite mit einer Einheit, die im Ausland eingesetzt wird. Es geht um die Vermeidung von falschen Erinnerungen. Schon kleinste falsche Details können militärische Entscheidungen gefährden. Ich bringe den Soldaten bei, wie sie falsche Erinnerungen vermeiden können und wie das Gedächtnis überhaupt funktioniert, damit sie verstehen, wie flexibel es sein kann. Und dass zum Beispiel ein Warlord nicht unbedingt lügt, wenn er eine Version erzählt, die objektiv nicht stimmt oder die anders ist, als man sie woanders gehört hat.“

Wie schaffe ich es denn, dass meine Erinnerungen unverfälscht bleiben?

„Indem Sie sich so schnell wie möglich zurückziehen, mit niemandem darüber reden und alles aufschrei­ben, an das Sie sich erinnern. Allerdings kann sich auch so eine Pseudo-Erinnerung einschmuggeln. Danach kann man sich mit anderen Anwesenden austauschen. So kommen vielleicht Details dazu wie zum Beispiel ein Name. Das kollektive Erinnern kann hilfreich sein, aber es öffnet auch die Tür für falsche Erinnerungen. Die Erinnerungen vermischen sich.“

Aber was ist denn dann eigentlich real?

„Das fragen mich meine Studenten nach der ersten Vorlesung auch immer. Man sollte die Realität spielerisch angehen und sich einfach eine eigene Realität zusammenbasteln. Aus Erinnerungen, die einem gefallen. Kurz gesagt: Suchen Sie sich einfach die beste Version aus.“

Was archiviert das Gedächtnis? Warum kann man sich manchmal nur an eher banale Dinge wie einen Geschmack oder einen Geruch erinnern?

„Das hat viel mit der Wahrnehmung zu tun, in dem Moment, in dem die Erinnerung entsteht. Wenn Dinge zu diesem Zeitpunkt sehr relevant waren wie ein außergewöhnlicher Geruch oder wenn wir bestimmte Sachen interessant oder wichtig finden, dann prägen sie sich stärker ins Gedächtnis ein.

Wenn wir uns auf einem Gebiet sehr gut auskennen, dann hängt man eine Erinnerung sozusagen an dieses Netzwerk an. Zum Beispiel: Man kennt sich mit Mode aus, kennt unterschiedliche Marken und Designer. Dann kommt eine Freundin mit einer Marc-Jacobs-Tasche an, und schon ist diese Information im Netzwerk verankert. Wenn man sich damit aber nicht auskennt, dann bemerkt man das wahrscheinlich nicht und bildet auch keine Erinnerung. “

Eine Freundin gibt Geschichten anderer Leute als ihre eigenen aus und ist felsenfest davon überzeugt, dass sie diese auch erlebt hat. Wieso macht sie das?

„Viele von uns sind sogenannte Gedächtnis- oder Erinnerungsdiebe. Sie klauen bewusst die Erleb­nisse von anderen und erzählen sie dann so, als ob sie ihnen passiert wären. So etwas kann aber auch unbewusst passieren: Wir erzählen aus Versehen eine Geschichte von jemand anderem und glauben, dass wir dabei waren. Bis wir die Geschichte dann der Person erzählen, die sie wirklich erlebt hat, ist es uns nicht bewusst, dass es nicht unsere ist.“

Wie ist das mit Geschichten aus der frühen Kindheit: Können wir uns wirklich erinnern, oder sind wir von Erzählungen beeinflusst?

„Autobiografische Erinnerungen an Ereignisse vor dem zweiten Lebensjahr sind nicht möglich. Das nennt man Kindheitsamnesie. Das liegt daran, dass das Gehirn noch nicht so weit ausgebildet ist und dass ein Kleinkind nicht weiß, was wichtig ist. Beides braucht man aber, um Kategorien für das Gedächtnis zu bilden und Erinnerungen abzulegen. Hinzu kommt, dass Sprache sehr wichtig für Erinnerungen ist. Es ist möglich, dass sich eine Vierjährige daran erinnert, was sie als Dreijährige gemacht hat. Aber sich als Erwachsener so weit zurückzuerinnern, ist unmöglich. Zwischen dem vierten und dem siebten Lebensjahr spricht man von einer Teil-Kindheitsamnesie. Man fängt an, Erinnerungen abzuspeichern, aber es funktioniert noch nicht so gut. Ab dem achtem Lebensjahr ist es dann so ungefähr wie bei einem Erwachsenen.“

Meine Mutter erzählt Geschichten aus ihrer Ver­gangenheit jedes Mal anders. Wie ist das zu erklären?

„Jedes Mal, wenn man eine Erinnerung hervorruft, verändert sie sich leicht. Das nennt man ,Retrieval-Induced Forgetting‘, also „erinnerungsinduziertes Vergessen“. Das bedeutet, dass man oft einen kleinen Teil vergisst, wenn man sich erinnert. Je öfter man eine Geschichte erzählt, desto besser wird sie, weil man Sachen weglässt, die unwichtig sind. Gleichzeitig verstärkt man die Aspekte, die man als wichtig empfindet. Das ist ein ganz normaler Prozess, quasi wie ,Stille Post‘ mit sich selbst zu spielen.“

Wenn sich unsere Erinnerungen neu formen, ist das denn auch für etwas gut?

„Diese Flexibilität des Erinnerns ist sehr wichtig. Die Zellen, die für unser Gedächtnis verantwortlich sind, sind auch für andere Dinge zuständig. Nur weil unsere Neuronen, die Gehirnzellen, so flexibel sind und sich mit neuen Neuronen und anderen Bausteinen im Gehirn vernetzen können, besitzen wir Kreativität und Intelligenz. Nur deshalb können wir Probleme lösen und auch flexibel in unserer Denkweise sein. Falsche Erinnerungen sind ein Nebenprodukt. Wenn unser Gehirn das nicht machen würde, wären wir sehr limitiert in unserem Denken. Und vielleicht gar nicht menschlich.“

Julia Shaw hat das Buch „Das trügerische Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ geschrieben, das im Hanser Verlag erschienen ist.

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