Irgendwann habe ich angefangen, meine Eltern beim Vornamen zu nennen. Ab da waren sie nicht mehr Mutti und Vati. Ich habe als präpubertäres Monster damit begonnen und danach nie wieder damit aufgehört. Damit wurden die Engsten, Liebsten zu zwei normalen Menschen. Mit Vornamen. So wie alle anderen auch.
Vielleicht war das als Teenie wichtig. Ein wenig Raum zwischen sich und die Eltern zu bringen. Platz zu bekommen für eigene Befindlichkeiten, Träume und Wünsche. Und dann kam die Zeit, in der ich ihn hinterfragte, bereute – diesen Abstand.
Wenn Eltern irgendwann nicht mehr da sind, hat man Angst, zu vergessen, wie sie waren. Wie sich ihr Lachen angefühlt hat. Ihr Blick. Alles. Und dann irgendwann, wenn man sich durch Berge von Hinterlassenschaften gewühlt hat, durch Fotos und Erinnerungen, merkt man: Was genau weiß ich eigentlich über diese zwei Menschen?
Ich begegne Bildern, Notizen und Zeitungsschnipseln. Kinderspielzeug, von dem ich nicht mal weiß, wem es gehört hat. Kleidung, die zu einer Hochzeit getragen wurde. Irgendwann. Lange, bevor man selbst existiert hat. Auf manchen Bildern sind Menschen, von denen ich nie mehr erfahren werde, wer sie sind.
Eltern haben oft fast ein halbes Leben gelebt, bevor man selbst überhaupt auf der Bildfläche auftaucht. In meinem Fall 32 und 35 Jahre.
Und dann realisiert man plötzlich: Diese zwei Menschen, die einen auf die Welt gebracht haben, geliebt, geprägt und gefordert haben, sind einem gar nicht so vertraut, wie man dachte und gehofft hat. Alles zerrinnt zwischen den Fingern und war auch nie ganz da. Wie oft gab es diese Momente, in denen meine Eltern etwas von sich preisgegeben haben? Selten. „Ach, das haben wir doch schon so oft erzählt. Wir wollen euch damit nicht langweilen.“ Und wenn sie dann doch etwas erzählt haben, war man erstaunt und fasziniert – sprachlos. Weil man in diesen Momenten spürte, wie wenig man von ihnen wusste und auch ahnte, dass die Zeit nicht reichen würde, diese Wissenslücke auch nur annähernd zu schließen. Denn die Zeit rennt.
In den letzten Jahren habe ich mir oft nach solchen Gesprächen kleine Notizen gemacht. Manchmal auch beim Telefonieren selbst. Um nicht das Wenige noch zu vergessen.
Man denkt halt immer, dass man seine Eltern extrem gut kennt. Man fühlt sich so nah, ist sich so vertraut. Vielleicht fragt man deshalb nicht.
Manchmal kann man eben nicht mehr fragen. Mein Vater hatte zu Lebzeiten einen Spitznamen. Rio. Ich habe alte Schulkamerad*innen angeschrieben, aber niemand konnte mir erklären, wie es zu Rio kam – einem Namen, den er immerhin sein halbes Leben lang getragen hat.
Es gibt Bilder von meinen Eltern, auf denen ich sie kaum erkenne. Bilder, auf denen sie halb so jung sind wie ich. Da ist etwas in den Augen, eine Energie, die ich nie gesehen habe.
Ich schaue diese Bilder oft an. Ein so vertrauter Mensch, den man zu kennen glaubt und dann dieses Bild: Meine Mutter mit Anfang 20. Wie sie in Berlin am Steg eines Sees sitzt und lacht. Es ist, als würde ich einen Film aus alten, geliebten Zeiten sehen. Zu denen mir aber jeder Zugang fehlt. Dessen Handlung ich nicht mal kenne.
Wir kennen Fakten, aber da ist so viel mehr. Und das wird uns nie erreichen.
Die Nachkriegszeit in Berlin. Ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen in einem zu großen Kleid, das traurig in die Kamera schaut. Kaffee schmuggeln von der Ostzone in die Westzone. Hunger haben. Hoffnung haben. Rudi Dutschke, der in einer Kirche von der Kanzel geprügelt wird, mit Handtaschen und Schirmen. Rudern auf dem Tegeler See. Heiraten und Pläne schmieden. Weg von Berlin. Und dann – irgendwann – wir Kinder.
Ich merke, dass ich so wenig weiß. Und dann überlege ich, wie viel mehr ich im Gegenzug von Freund*innen und Bekannten weiß. Was sie bewegt, traurig macht, was sie umtreibt und wie wenig ich doch von den zwei Menschen erfahren habe, die meine eigenen Eltern sind.
Warum dieses Missverhältnis? Warum habe ich die einen so viel gefragt und die anderen nicht? War es Scheu, Desinteresse, Ich-Bezogenheit? Müssen Eltern auf einem Sockel bleiben? Separiert vom Rest?
Man denkt halt immer, dass man seine Eltern extrem gut kennt. Man fühlt sich so nah, ist sich so vertraut. Die eigene Familie eben. Vielleicht fragt man deshalb nicht.
Und: Welche Fragen hätte ich überhaupt gestellt? Wovon hast du geträumt, mit 20, 30 oder 50? Wann bist du warum im Leben gestrauchelt? In welchen Momenten hast du gedacht: Ja, jetzt. Hier. Alles ist gut gerade. Und in welchen wolltest du ausbrechen? Und hätte ich überhaupt eine offene Antwort auf diese Fragen bekommen?
Wie viel erzählt man seinem Kind? Denn genau hier verläuft eine unsichtbare Linie zwischen Eltern und Kindern. Eltern werden für Kinder immer Eltern bleiben. Ebenso wie wir für sie immer Kinder bleiben. Und das hat absolut nichts mit fehlender Liebe und Nähe zu tun.
Und diese Sichtweise trennt das Konstrukt vielleicht direkt von Anfang an. Diese Rollen, in denen wir familiär gefangen sind und aus denen wir ein Leben lang nicht ausbrechen können. Manchmal irrsinnig und oft überflüssig, diese fixen Rollen. Und gleichzeitig ein Grundmuster, an dem wir uns ein Leben lang festhalten.
Und am Ende merkst du: Du hast noch so viele Fragen. Und die Zeit reicht nicht mehr.
Nutzt eure Zeit. Stellt Fragen.
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