Unsere Autorin ist Mutter eines Kindes mit Behinderung. Sie will nicht, dass man ihr deshalb Tapferkeit oder Stärke zuschreibt. Sie will Sichtbarkeit – für ihr Kind und sich selbst.
Ich habe mich bewusst dazu entschieden, Mutter zu werden. Alle meine Kinder sind gewünscht, geplant und geliebt. Ich hatte ein realistisches Bild vom Alltag mit Kindern. Ich setzte mich schon Jahre vor meiner Mutterschaft in einem feministischen Kontext mit Themen wie Rollenbildern und Altersarmut auseinander. Und dann wurde ich Mutter.
Bei uns gab es nicht diesen einen Augenblick, in dem plötzlich klar war: Hier ist was anders. Bei uns war es ein schleichender, stiller Prozess. Ein langsames Wegdriften von der Norm. Wir akzeptierten unser Kind in all seinen Auffälligkeiten: Es spricht nicht, weil zweisprachige Kinder später zu sprechen anfangen. Es ist eben ein sehr aktives Kind. Ein sehr willensstarkes Kind. Ein sensibles Kind. Es entwickelt sich eben ein wenig anders, hier und da vielleicht langsamer. Aber das wird schon.
Die absolute Überforderung
Und es wurde. Besser und schlechter. Unser Kind fing mit drei Jahren an zu sprechen und holte sehr schnell auf. Und unser Kind fing mit zwei Jahren an, teilweise über Stunden zu schreien und sich und mich zu verletzen. Nicht, weil es Spaß an Gewalt hatte oder ein Ziel verfolgte. Es schien die einzige Möglichkeit, der absoluten Überforderung, die es empfand, Ausdruck zu verleihen.
Unser Kind kann auf dem Spielplatz herumtoben und uns erklären, wie die Dinosaurier ausgestorben sind. Und gleichzeitig kann es sich nicht alleine anziehen und hat kein Verständnis von Zeit jenseits seiner gewohnten Abläufe. Unser Kind kann mit anderen Kindern sprechen und versteht gleichzeitig vieles in der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht.
Es schreit und brummt, nimmt unangemessene Gegenstände in den Mund, es übersieht Menschen, die direkt vor ihm stehen. Viele dieser Verhaltensweisen werden ihm von außen negativ ausgelegt. Unser Kind ist dann das unerzogene Kind, das komische Kind, das nervige Kind. Weil man es von außen eben nicht sehen kann: Unser Kind hat eine unsichtbare Behinderung.
Alle meine Kinder sind gewünscht, geplant und geliebt. Es mangelt ihnen und uns also weder an Hingabe noch an Liebe. Es mangelt uns an Sichtbarkeit. Denn es ist Sichtbarkeit, die Verständnis und Bewusstsein schafft. Erst, wenn die Leute verstehen, dass mein Kind nicht einfach schreit, weil es ärgern will oder schlecht erzogen ist, können sie Verständnis haben. Ich kann aber nicht jeder einzelnen Person auf jedem Spielplatz der Welt unsere individuelle Geschichte erklären.
Nicht nur habe ich dafür nicht genug Kapazität und Zeit. Jedes Kind mit Behinderung – viele viel schwerer betroffen als wir – hat seine individuelle Geschichte. Es reicht nicht, in einem winzigen Ausschnitt sichtbar zu sein, das wird der Komplexität und Vielfalt aller Geschichten nicht gerecht. Es muss ein gesellschaftliches Bewusstsein entstehen.
Spielplatz als Spießrutenlauf
Die Situation auf dem Spielplatz ist nur ein winziger Teil, in dem fehlendes Verständnis und Bewusstsein Kinder mit Behinderung und ihre fürsorgenden Personen einschränkt und ausschließt. Das zieht sich systematisch durch alle Bereiche. Jede Person mit Kindern weiß, wie schwer das Ding mit der Vereinbarkeit praktisch umzusetzen ist. Wie schwer muss es mit einem Kind mit Behinderung sein? Das Leben von Eltern von Kindern mit Behinderung ist geprägt von Einschränkungen an Möglichkeiten im privaten und ökonomischen Sektor, Anträgen, Ablehnungen, finanziellen, sozialen und psychischen Mehrbelastungen.
Eltern von Kindern mit Behinderung müssen ihre Kinder in vielen bis jedem Bereich ihres Alltages begleiten und unterstützen. Viele Kinder benötigen bestimmte Ernährungsweisen oder verweigern bestimmte Nahrungsmittel. Manche können nicht selbstständig essen, keine feste Nahrung zu sich nehmen oder werden über Sonden ernährt. Eltern von Kindern mit Behinderung können ihr Kind nicht einfach in die Betreuung geben, sie brauchen inklusive Kindergärten oder Integrationshelfer*innen. Ihre Kinder brauchen oft täglich spezifische medizinische Versorgung und Eingriffe.
Kommunikation, Mobilität, Eigenständigkeit gestalten sich oft schwer bis unmöglich. Termine bei Ärzt*innen und diverse Therapien müssen regelmäßig wahrgenommen werden. Oft sind Eltern dabei aktiver Bestandteil. Neben dem Spiel und der pädagogischen Begleitung müssen die Eltern täglich Therapien und Übungen Zuhause umsetzen. Sie müssen sich Fachwissen anlesen und investieren Stunden in Recherche über medizinische Informationen, und um herauszufinden, wo sie was beantragen können.
Hilfsmittel und Unterstützung müssen regelmäßig und immer wieder neu beantragt werden. Die Bearbeitungsdauer beträgt oft Wochen. Viele Anträge werden abgelehnt und Eltern müssen regelrecht darum kämpfen. Kinder mit Behinderung sind von vielen Freizeitaktivitäten ausgeschlossen. Weil Orte nicht barrierefrei sind, Treppen und schmale Gänge das Passieren mit einem Rollstuhl unmöglich gestalten oder die vielen Reize und Menschen das Kind überfordern.
Wir müssen gut abwägen, wann wir auf den Spielplatz gehen können. Viele Kinder mit Behinderung können nie Spielplätze besuchen. Wenn man nicht sieht, welche vielfältigen und komplexen Hürden Eltern von Kindern mit Behinderung überwinden müssen, unter welchen Bedingungen sie leben, versteht man sie nicht. Das schafft Distanz und Berührungsängste, die wiederum das Leben mit Behinderungen weiter stigmatisieren. Darum ist Sichtbarkeit der Grundbaustein für Inklusion.
Inklusion beginnt beim Kindergeburtstag
Die Mehrheit der Deutschen ist für die Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung, für den Ausbau der Barrierefreiheit und gemeinsamen Unterricht. Und doch geht der Prozess der Inklusion schleppend voran. Das Problem ist: Viele scheinen zu denken, Inklusion ist, wenn man prinzipiell dafür ist oder wenn das eigene, nicht behinderte Kind in eine inklusive Kita geht. Inklusion praktisch umgesetzt, heißt, sich mit den Bedingungen von Menschen mit Behinderung auseinanderzusetzen. Inklusion bedeutet, dass das Kind mit Behinderung auch mal zum Kindergeburtstag eingeladen wird.
Inklusion bedeutet, dass das Kind mit Behinderung auch mal zum Kindergeburtstag eingeladen wird.
Es reicht also nicht aus, wenn ich jeder einzelnen Person auf jedem Spielplatz der Welt erkläre, dass mein Kind eine unsichtbare Behinderung hat und was das bedeutet. Man muss mir auch zuhören und sein Kind mit meinem spielen lassen.
Wenn Eltern von Kindern mit Behinderung ihr Leben und ihren Alltag sichtbar machen, über die schweren, schmerzhaften Aspekte berichten, dann seht hin und hört zu! Nehmt uns nicht den Raum, indem ihr es stigmatisiert, über das Leben mit Kindern jenseits von „Es ist ein bisschen anstrengend, aber Liebe ist alles, was zählt“ zu sprechen. So als wäre es bloß ein Mangel an Liebe, der unser Leben erschwert.
Sagt uns nicht, wir wären viel tapferer, viel stärker. Denn wir sind nicht tapferer und stärker als andere gewesen, wir mussten es werden, weil wir keine Wahl hatten. Denn für uns gilt, was am Ende des Tages für alle Eltern gilt: Wir hatten vielleicht wie ich die freie Wahl, ein Kind zu kriegen – aber wir waren nicht frei in der Wahl, unter welchen Bedingungen wir es tun. Jede*r in dieser Gesellschaft hat aber die Wahl, ob er*sie hinsehen und zuhören will.