Intersektionaler Feminismus ist einerseits zum Modewort geworden, wird andererseits aber oft nicht richtig verstanden, geschweige denn gelebt. Ein Kommentar.
Keine Frau wird als Feministin geboren. Wir werden zu Feministinnen gemacht. Und das zwangsläufig, wenn wir im patriarchalen System überleben wollen. Doch es ist ein weiter Weg von der Frau zur Feministin. Damals, als Feministinnen dem Klischee nach unrasiert waren, Bart trugen und andere Frauen für ihren Lippenstift kritisierten, wehrten sich viele Frauen dagegen, so genannt zu werden. Denn Feministinnen wurden aufs Übelste beschimpft und als „hysterische Furien“ abgestempelt. Viele Leute dachten damals, Feministinnen seien alle lesbisch und würden per se Männer hassen.
Heute ist das anders. Zur Stunde gehört der Feminismus zum guten Ton in der Gesellschaft. Auch deutsche Politiker*innen haben endlich erkannt, dass das nationale Ansehen nicht von Patriarchen bestimmt werden sollte, sondern vom Status quo der Frau abhängt. Und so sind wir in vielen Dingen bessergestellt als früher: Frauen dürfen zum Beispiel wählen. Seit mehr als einem Jahrhundert dürfen wir mitbestimmen, was in der Politik entschieden wird. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wurde doch lang und hart für dieses Privileg gekämpft. Aber dieses Recht gilt leider nicht für alle. Denn Frau ist nicht gleich Frau und Feministin nicht gleich Feministin. Um ihre Stimme in Deutschland abgeben zu dürfen, muss eine Frau die deutsche Staatsbürger*innenschaft besitzen, was nicht auf alle Frauen im Lande zutrifft.
Glossar/Sprachhinweis:
Schwarz wird großgeschrieben, als Ausdruck der Sensibilität gegenüber den sprachlichen Herausforderungen im Umgang mit Rassismus. Damit wird deutlich gemacht, dass es sich um eine selbstbestimmte Identität handelt und nicht um eine rassistische Beschreibung einer Person. Mit „Schwarz“, genauso wie mit „Person of Color“, werden also keine Hautfarben benannt, es handelt sich vielmehr um politische Begriffe, die Rassismus und Machtverhältnisse in einer von weißen Menschen dominierten Gesellschaft benennen.
weiß Die Kursivschreibung des Wortes „weiß“ verweist auf seine Bedeutung als sozialpolitische Analysekategorie, die es ermöglicht, die gesellschaftliche Norm sichtbar zu machen.
„Gleicher Lohn bei gleicher Arbeit!“ greift zu kurz
Auch ich bin Feministin. Eine radikale Schwarze Feministin und deutsch noch dazu. Mein feministischer Weg verlief anders als der jener weißen deutschen Frauen, deren erklärtes Ziel es war, genauso hoch hinaus und genauso schnell voranzukommen wie der weiße deutsche Mann. „Gleicher Lohn bei gleicher Arbeit!“, forderten sie damals, und das fordern sie noch heute. Soweit ich mich zurückerinnern kann, kamen die Frauen in meiner Familie gar nicht erst dazu, gleichen Lohn zu verlangen. Sie rangen immer um Arbeit. Doch der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu höherer Bildung wurde ihnen stets erschwert. Sie konnten sich selten einen Job aussuchen und meist keine kostenlose Bildung genießen. Meine Mutter klagte immer wieder darüber, dass sie als Kind barfuß fünf Meilen zur Schule laufen musste, weil Schuhe zu teuer waren. Geld war also immer Thema, nur haben die Frauen in meiner Familie hart geschuftet, um ein Minimum zu verdienen und das Notwendigste kaufen zu können.
Wenn ich weißen Feministinnen zuhöre, entsteht häufig der Eindruck, dass Gleichberechtigung nur dann erreicht wäre, wenn die weiße Frau dasselbe verdient wie der weiße Mann. Dabei wird übersehen, dass das Frausein von vielen Faktoren beeinflusst wird: Race, Class, Religion, Alter, Ability, Körpernormen, sexueller Orientierung und nicht zuletzt Nationalität. Viel zu oft neigen weiße Frauen also dazu, Feminismus eindimensional und Unterdrückung singulär zu begreifen. Was ihnen fehlt, ist das Verständnis, dass Schwarze Frauen und Frauen of Color unterschiedlichen Formen der Diskriminierung ausgesetzt sind, die nicht einfach addiert werden können, sondern gleichzeitig wirken und auch gleichzeitig bekämpft werden müssen. In meinem Femiversum kann sexistische Ungleichheit deshalb nie getrennt von rassistischer und sozialer Ungleichheit verhandelt werden. Denn ich bin Schwarz, deutsch und weiblich und gehöre sowohl zur frühen Schwarzen Immigrant*innengeneration wie auch zur ersten Generation Schwarzer Akademiker*innen, die auf dem ersten Bildungsweg promovieren konnten und heute als Professor*innen tätig sind.
„Keine Frau wird als Feministin geboren. Wir werden zu Feministinnen gemacht.“
In dieser Hinsicht habe ich wenig von weißen Feministinnen lernen können. Am allerwenigsten von der deutschen Vorzeigefeministin Alice Schwarzer, die in den frühen 1980er-Jahren in deutschen Medien omnipräsent zu sein schien. Ihr Feminismus wurde als unfehlbar dargestellt, ihre feministische Perspektive von vielen weißen Frauen als allgemeingültig angenommen. Auf mich wirkte er aber sehr künstlich, aufgesetzt, fast gespielt. In jedem Fall stand ich Alice Schwarzer immer skeptisch gegenüber. Vielmehr lernte ich als junge Schwarze Frau mit jamaikanischen Wurzeln schon früh einen Feminismus kennen, der viel organischer war, als er in den deutschen Medien vermittelt wurde.
„Unsere Leben sind von unterschiedlichen Realitäten geprägt“
In meiner Familie wurde nicht über Feminismus geredet, er wurde gelebt: Die Frauen in meiner Familie arbeiteten, schoben sogar Extraschichten, damit es uns Kindern an nichts fehlte. Sie hielten zusammen, wehrten sich gegen den Rassismus, dem sie auf der Arbeit ausgesetzt waren, und gaben mir früh zu verstehen, dass Race nie ohne Class gedacht werden kann. Doch sie bezeichneten sich selbst nie als Feministinnen. Als Kind gehörte der Begriff nicht einmal zu meinem Wortschatz. Und trotzdem. Auch wenn meine Mutter sich selbst nie so bezeichnete, würde ich behaupten, dass sie eine Feministin ist, so wie auch meine Tante und meine Großmutter und die vielen Schwarzen Frauen in meiner Familie, die vor ihnen kamen. Es ist also nicht weit hergeholt zu behaupten, dass ich meinen Hang zum Feminismus schon mit der Muttermilch aufgesogen habe.
Erst im Laufe meines Lebens lernte ich, dass es auch viele Schwarze Frauen außerhalb meiner Familie gab, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatten (und noch haben) und einen ähnlichen Feminismus gelebt haben wie ich. Als ich im Laufe meiner wissenschaftlichen Arbeit erfuhr, wie eng Rasse und Nation im deutschen Kontext miteinander verbunden sind und wie sehr mein Alltag als Schwarze Deutsche davon beeinflusst ist, wollte ich wissen, wer diese Frauen sind, was unsere Gemeinsamkeiten sind und wo unsere Unterschiede liegen. Im Austausch mit ihnen erfuhr ich, dass wir nicht alle gleich sind und auch nicht alle gleich sein können. Unsere Leben sind von unterschiedlichen Realitäten geprägt. Was wir gemeinsam haben, ist, dass wir an derselben „Kreuzung“ stehen, wo sich Rassismus, Kapitalismus und das Patriarchat überschneiden und Mehrfachdiskriminierungen hervorbringen können.
1989 setzte die Schwarze US-amerikanische Juristin Kimberlé Williams Crenshaw „Intersektionalität“ als Forschungslinse ein, um an einem ganz konkreten juristischen Fallbeispiel diese spezifische Form der Mehrfachdiskriminierung sichtbar und beschreibbar zu machen. Im Fall „DeGraffenreid versus General Motors“ hatten 1976 fünf Schwarze Arbeiterinnen wegen struktureller Diskriminierung gegen ihre ehemalige Firma geklagt, weil sie zuletzt eingestellt worden waren und ihnen zuerst gekündigt wurde. Ihre Klage wurde allerdings als gegenstandslos zurückgewiesen. Schließlich sei weißen Frauen nicht gekündigt worden, hieß es, weshalb kein Fall von Sexismus vorliegen könne. Und ebenso wenig sei Schwarzen Männer gekündigt worden, weshalb es sich nicht um Rassismus handele. Was das Gericht nicht erkannte, war, dass die Schwarzen Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position zuletzt eingestellt und zuerst gekündigt worden waren. Sie waren gleichzeitig von strukturellem Rassismus und von Sexismus betroffen und erlebten daher eine Form der Mehrfachdiskriminierung. Obwohl (oder gerade weil) die Klage abgewiesen wurde, konnte Kimberlé Crenshaw aufzeigen, dass Mehrfachdiskriminierung sich durch die gleichzeitige Wirkung zweier oder mehrerer Diskriminierungen auszeichnet.
„Ich hoffe, dass Feminismus in Zukunft mehr als Geschlechtergerechtigkeit fordert“
In den letzten Jahren ist „Intersektionalität“ im deutschsprachigen Raum zu einem Modewort geworden und nicht mehr aus Wissenschaft, Politik, Kunst oder Kultur wegzudenken. Doch selten wird eine Verbindung zum Entstehungskontext im Schwarzen Feminismus hergestellt. Stattdessen wird Schwarzsein, welches ohne die Verwobenheit von Race und Class nicht analysiert werden kann, als Kern des Intersektionalitätskonzepts einfach „weggedacht“. Wenn weiße feministische Theorie also versucht, Frauenerfahrungen zu analysieren, ohne dabei die intersektionale Wirkmacht von Race, Class und Gender in den Blick zu nehmen, trägt sie weniger dazu bei, die rassistischen, kapitalistischen und sexistischen Strukturen der Gesellschaft abzubauen, sondern hält diese aufrecht. Die Folge ist, dass sexistische Diskriminierung ausschließlich auf der Basis von Gender analysiert wird, Class meist ganz aus der Gleichung herausfällt und Race zu einer unsichtbaren Kategorie wird.
In der Konsequenz fühlen sich Schwarze Frauen nicht vom deutschen Feminismus repräsentiert, da stets einseitige Forderungen gestellt werden, die mit unseren Lebensrealitäten nur rudimentär etwas zu tun haben. Um Antworten auf die vielen spezifischen Fragen zu bekommen, schauen wir Schwarze Frauen häufig in die USA. Leider müssen wir aber feststellen, dass wir dort nicht immer die passenden Antworten finden. Vor allem dann nicht, wenn es um die spezifischen Lebenserfahrungen von Schwarzen Frauen in Deutschland geht.
Diesem Missstand möchte ich entgegenwirken. Zum einen möchte ich aufzeigen, dass Schwarze feministische Lebensrealitäten auch in Deutschland verwurzelt sind und weiter zurückreichen als in die deutsche Nachkriegs- oder Wendezeit. Zum anderen sollen ebendiese Geschichten von Schwarzen Frauen, die im deutschsprachigen Raum gelebt und gewirkt, aber bislang nur wenig Aufmerksamkeit bekommen haben, sichtbar gemacht werden. Intersektional zu denken und intersektional zu handeln heißt nämlich immer auch, der Unsichtbarmachung Schwarzer feministischer (Ideen-)Geschichte entgegenzuwirken. Nicht zuletzt hoffe ich, dass insbesondere der Kategorie „Race“ im feministischen Diskurs mehr Bedeutung zukommt und Feminismus in Zukunft mehr als Geschlechtergerechtigkeit fordert.
Dieser Text ist zuerst in Dr. Natasha A. Kellys neuestem Buch „Schwarz. Deutsch. Weiblich“ (Piper Verlag, 2023) erschienen.
In „Schwarz. Deutsch. Weiblich“ zeigt die Autorin auf, wie Elitedenken und rassistische Vorurteile seit Langem den westlichen feministischen Diskurs bestimmen und so einen für alle offenen Feminismus verhindern. Um das zu ändern, erzählt sie anhand von persönlichen und kollektiven Erfahrungen und historischen Schlaglichtern vom Schwarzen Feminismus in Deutschland. Hier klicken für weitere Informationen über das Buch.
Dr. Natasha A. Kelly (geb. 1973) ist Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin, Autorin, Herausgeberin, Kuratorin und bildende Künstlerin. Sie arbeitet an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst. Kelly hinterfragt aus einer Schwarzen feministischen, dekolonialen Perspektive eurozentrische Konzepte von Wissen, Macht und Körper. Ihr zentrales Anliegen ist es, Schwarze Perspektiven in der Wissenschaft und Kunst zu stärken; derzeit ist sie federführend an der Gründung eines unabhängigen Instituts für Schwarze deutsche Kunst, Kultur und ihre Wissenschaften beteiligt.