Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach.
Konsum, Kapitalismus, Kinderserien
„Wart mal ab, bis dein Kind älter ist, dann geht das auch los mit dem Wollen und Haben Müssen!“ Bald beginnt die Schule, und ich muss ganz ehrlich sagen, ich warte noch. Doch der Reihe nach. Ich staunte nicht schlecht, als unser weitgehend genderneutrales Berliner Kind nach wenigen Tagen im neuen Dorfkindergarten begann, von den Jungen und den Mädchen zu erzählen. Nie zuvor hörten wir, wie andere Kinder von ihm nach Geschlecht sortiert wurden, was auch daran liegen könnte, dass wir relativ absichtlich und grundsätzlich von Kindern sprachen, nie von Mädchen und Jungen.
Mein Mann, der die Eingewöhnung übernommen hatte, erwähnte einfach mal wochenlang nichts, vielleicht fiel es ihm nicht auf, doch ich kippte fast aus den Latschen, als ich zum ersten Mal die Kindergartengarderobe während der Betriebszeit begutachten durfte.
Rosa, rosa, rosa, pink, glitzer, blau, blau, blau.
Nichts Gelbes, Grünes oder einfach Buntes in Sicht. Erst beim genauen Hinschauen fiel mir außerdem auf: Die rosa-blauen Hausschuhe und Rucksäcke waren nach Kinderserien sortiert. Richtig gelesen. Fernsehserien. TV. Super RTL, Disney Channel, irgendwas. Die Garderobe war besser ausgestattet als ein Geschenkeshop im Vergnügungspark.
Für die Peniskinder ganz klar Paw Patrol, Ninjago, Feuerwehrmann Sam und Star Wars. Hier und da ein „cultural appropriation“-Yakari. Alle Kinder ohne Penis sind ja bekanntlich Prinzessinnen und kriegen deshalb Elsa, die Eiskönigin. Manchmal ihre Schwester Anna, je nach beigebrachter Bescheidenheit. Obwohl Elsa schon ein gscheider Anti-Hero ist und Anna schön lieb und dusselig. Kann man fast schon unterstützen. Und wie es sich für eine Eiskönigin aus Skandinavien in einem hellblauen Kleid gehört, ist ihr gesamtes Merchandise rosa. Macht Sinn.
Resignation im Kinderbekleidungsgeschäft
Wer kauft eigentlich dieses ganze Zeug, murmle ich und fahre Richtung Drogeriemarkt. Doch niemand fährt einfach so in einen Drogeriemarkt und kauft eine Sache. Nicht wenn sich neben dem Drogeriemarkt dieses Bekleidungsgeschäft befindet und das Kind Strümpfe und Unterhosen braucht, die einzigen Sachen, die ich nicht gebraucht kaufe. Ich muss zu meiner stolzen Schande gestehen, dass ich zu dem Zeitpunkt Vollzeit in einer anderen Stadt gearbeitet hatte, mir aber gewollt diese eine Mental-Load-Aufgabe bewahrt habe: Kleidung aktualisieren. Ich gehe also in das Bekleidungsgeschäft und es macht BING und schon leuchtet die Glühbirne in meinem Schädelchen. Rosa, Anna, Elsa, Blau, Paw Patrol, Star Wars. Aaaaaaaaaah.
Im Umkreis von ungefähr 20 Kilometern ist dieser kleine Laden der Einzige, in dem ich Klamotten für meinen Nachwuchs käuflich erwerben könnte. Versteht mich nicht falsch: Dass ich nur 20 Kilometer fahren müsste, um in die Stadt zu kommen und mich da dann in zig Fast-Fashion-Ketten an Konsum aufgeilen könnte, ist ja schon ein Vorteil. Während ich diese Kolumne schreibe, bin ich in Schleswig-Holstein und ich sag mal so … 20 Kilometer sind nichts. Dieser kleine Laden einer namhaften Kette, die sich als Familiengeschäft und -unternehmen versteht, steht oft gerne neben Drogeriemärkten. Wenn ich also meine Windeln und Kloreiniger gekauft habe, kann ich da ja mal schnell rein, nur um zu gucken, könnte man meinen.
Äh, einfach nur Socken?
Ich bin aber nicht zum Gucken da. Ich will Socken und Unterwäsche, weil das Kind Socken und Unterwäsche braucht, weil man Shirts anscheinend drei Jahre lang tragen kann, aber Socken müssen alle zwei Monate gewechselt werden. Nach kurzem Suchen und direktem Überfordertsein frage ich die Verkäuferin, wo denn die Socken in ca. Größe 30 wären. „Mädchen oder Junge?“
Ich naives Ding wüsste gerne, was das fürn Unterschied machen soll, und antworte zaghaft: „Äh, neutral? Einfach Socken halt?“ Sie guckt mich an. Ich gucke sie an. In dem Moment wird mir klar, dass sie das wahrscheinlich einfach noch nie gefragt wurde. Geil, kann ich später wieder mit angeben, wenn ich der Berliner Bubble erzähle, wie genderkonform das Landleben ist. Aber ICH, ICH mache hier den Unterschied, ICH bewege noch etwas! „Gibt’s nicht. Also Jungen sind da und Mädchen sind da.“
Ich knie mich hin und finde ganz unten und ganz hinten bunt gestreifte Socken. Na dann. Die neutralsten Unterhosen sind in der Jungsabteilung und haben Zahlen drauf. Harte Zahlen, die aussehen, als ob sie auf einem Monster Truck stehen sollten. Die einfachen weißen Unterhosen in der Mädchenabteilung sind mit Spitzelementen und kleinen Schleifchen dekoriert.
Das Problem an dieser Sache ist, dass mein Kind Socken braucht und man auf dem Flohmarkt eher selten Socken ab Größe 25 finden kann, da die größeren Größen nämlich wirklich einfach irgendwann kaputtgehen. Also muss ich in solche Läden, die ich sonst zu 100 Prozent aus Nachhaltigkeitsgründen meide, wenn es um Shirts, Pullis, Hosen, Schuhe oder Jacken geht. Das bricht mir mein Herz, aber ich bin auch nicht Krösus und da wir ja nicht auf What-Aboutism stehen, kriegt das sonst sehr nachhaltig angezogene Kind nagelneue Socken.
Klare antikapitalistische Konsumkritik
Mein Herz tanzt einen Frustrationstanz und ich seufze die Ermattung meines Gehirns weg. Mir geht es nicht mal um die Genderkacke, sondern auch um klare antikapitalistische Konsumkritik. Mein Kind wird keine Socken tragen, dessen Profit direkt Richtung Disney beziehungsweise der Rechtsabteilung dieses Unternehmens geht. Denn um Socken mit Elsa- oder Lego-Figuren verkaufen zu dürfen, müssen Lizenzverträge ausgehandelt werden. Und Lizenzen kosten richtig Geld. Im schlimmsten Fall verdient das Unternehmen fast nichts an den Kinderseriensachen, sondern hofft, dass sie die Leute einfach in die Läden kriegen, wenn nur sie die Regenjacken mit Elsa führen. Oder, noch schlimmer, die eh schon ausgebeuteten Menschen, die die Socken herstellen, kriegen noch weniger, damit es sich richtig lohnt. Es ist also eine teure Ehre, den Merchan-Scheiß überhaupt verkaufen zu dürfen.
Huhn und Ei kennt ihr, ne. Ich sitze mit Socken, ohne Tüte im Auto, und gucke mir den Laden von außen an. Wer da so reingeht, wer da so rauskommt. Was die Leute tragen. Wer war zuerst da, die Leute, die nachmittags ihre Kinder Super RTL gucken lassen und auf diese ganzen Serien anfixen oder die Läden, die Unterhosen mit Prinzessinnen und sprechenden Hunden anbieten? Nee Elina, Dummerle, die Serien und Filme, die waren zuerst da.
– Ja, aber als ich ein migrantisches Fernsehkind in den 90ern war, lief ich doch auch nicht von Kopf bis Fuß in Arielle rum.
Weil du arm warst und deine Klamotten vom Roten Kreuz aus großen Kisten kamen.
– Ach ja, die Geschichte. Aber meine deutschen Freundinnen liefen auch nicht von Kopf bis Fuß in Arielle rum!
Deine deutschen Freund*innen durften kein Fernsehen gucken außer die Sendung mit der Maus. Oder Löwenzahn, wenn die Eltern mal Fünfe grade sein lassen wollten.
Wandelnde Litfaßsäulen für das Nachmittagsprogramm von Super RTL
Nur um eins klarzustellen: Ich verurteile um Gottes Willen nicht das Fernsehen an sich, hahahaha, nein. Oder Kinder, die (viel) fernsehen. Oder Eltern, die ihre Kinder fernsehen lassen, weil sie im Schichtdienst arbeiten oder mehrere Jobs haben und auch mal eine Pause brauchen. Aber Leute. Ihr habt doch alle Netflix oder Prime, oder, etwas nachhaltiger, DVDs zu Hause. (Nachhaltiger, weil Streaming tatsächlich einen richtig krassen CO2-Abdruck hat.) Nutzt doch einfach die Services, die eure Kinder nicht mit Werbung vollkotzen.
Nie, nie hätte ich gedacht, ich könnte so einen Hass auf Kinderserien und Werbung entwickeln, dass ich mal so ein Mensch werden könnte. Und wisst ihr, warum ich hier so rumhasse, und die Leute nicht in Ruhe ihre Kinderserienkleidung kaufen lasse? Das ist wie mit der überwältigenden Mehrheit der verheirateten Mütter, die in Teilzeit arbeiten und unter 2000 Euro verdienen und damit auf ihre Rente kacken: Wenn es alle machen, ist es keine persönliche Entscheidung mehr, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Wenn gefühlt ganze Kindergärten und Grundschulen zu wandelnden Litfaßsäulen für das Nachmittagsprogramm diverser Fernsehsender werden, hat das nichts mehr mit persönlicher Vorliebe, sondern Geld, Ausbeutung und Ressourcenverschwendung zu tun.
Aber hey, macht euch keinen Kopf, ich hate auch unfassbar gerne auf schlechte Kinderbücher. Wenn jetzt die ersten Charlottes und Susis den Finger heben wollen und sagen ja, aber, ist doch toll, wenn Kinder überhaupt lesen? Nein! Wäre mir lieber, sie würden bügeln oder Unkraut jäten, statt Conni zu lesen. Mein Kind kommt jetzt in das Alter, in dem es schwieriger wird, auf dem Flohmarkt gute Bücher zu finden. Sogar die Lesegeschichten sind in Piraten- und Pferdegeschichten aufgeteilt. Ihr wisst schon, was für wen gedacht ist. Es ist also tatsächlich schon vorgekommen, dass ich so richtig dämliche Geschichten buchstäblich in die Tonne trete. Hier mein Tipp: Geht zu eurer Stadtbücherei, wünscht euch Bücher, und leiht aus. Unfuck the Konsum.
Das Prinzip Kinderkörper als Werbeplattform ist ja nun wahrlich nichts Neues und war auch schon in den glorreichen 90ern bekannt. Verzehrt habe ich mich nach Adidas-Pullovern und Fila-Schuhen, irgendwas mit Logo. Aber ich kann mich um Himmels willen nicht daran erinnern, meine Eltern gebeten zu haben, mir Fabius-Unterwäsche oder König-der-Löwen-Socken zu kaufen. (Ich musste grad kurz lachen, weil das Kind in einem König-der-Löwen-Schlafanzug reinkam.) Und meine Eltern haben einen Teufel getan, mich entsprechend dem Fernsehprogramm anzuziehen. Hauptsächlich weil kein Geld da war.
Wer bezahlt denn den glitzernden Dreck?
Wer geht einkaufen? Ihr oder die Kinder? Der Teufelskreis ist furchtbar: Kinder gucken bescheuerte Serien und reden über nichts anderes als ihre bescheuerten Serien, Eltern kaufen ihren Kindern Klamotten, Stifte, Sticker, Klopapier und BROT (so gesehen im Aldi) entsprechend ihrer favorisierten Kinderserien-Charaktere, unterstützen damit Fast Fashion und Großkonzerne und niemandem ist geholfen.
Leute, ganz im Ernst: Wer hat denn das Portemonnaie in der Hand? Wer bezahlt denn den ganzen glitzernden Dreck? Und den Dreck ohne Glitzer dafür mit lebensgetreuen Haien, der ums Verrecken aus kleinen Jungs harte Männer machen will? Was kauft ihr denn die Ü-Eier für Mädchen? Oder die Kinderschere mit Piraten drauf? Wollt ihr mir sagen, eure Kinder würden Scheren nicht benutzen und Nahrungsmittel nicht essen, es sei denn, Lightning McQueen oder Elsa sind drauf?
Und freut euch nicht zu früh, liebe Berliner Bubble, nur weil ihr hellgraue Bio-Baumwolle und pastellfarbene genderneutrale Öko-Kleidung kauft, kauft ihr immer noch stetig Neuware. Warum? Das Zeug ist teilweise so skandalös teuer, und hält längst nicht immer ewig! Für die Preise könntet ihr auf jedem Flohmarkt kiloweise Kinderkleidung kaufen.
Der Markt ist übersättigt
Stellt euch mal vor, alle Eltern in ganz Deutschland würden von jetzt auf gleich einfach aufhören, Kinderkleidung neu zu kaufen. Einfach so. Für einen Monat. Glaubt ihr ernsthaft, es wäre nicht genug da? Kleiderkreisel, Mamikreisel, Ebay Kleinanzeigen, Nummernflohmarkt im Kindergarten und der Hofflohmarkt in eurer Nachbarschaft. Wir schmeißen tonnenweise Kinderkleidung weg, weil sie ein Mini-Loch hat oder einen doofen Fleck haben. Wenn man für wenig Geld eine neue Hose kaufen kann, warum sollte man die gerissenen Knie flicken? Weil man Verantwortung trägt und weil der Markt übersättigt ist.
Wir leben in einem Zeitalter, in dem Konsum endlich mal wieder neu gedacht wird. Plastik, Fleisch, Mikroplastik, Fast Fashion und Verpackungsmüll sind Schlagwörter, die immer mehr bei der allgemeinen Masse zum Begriff werden. Bei Kindern auf Fast Fashion und Merchandise-Klamotten zu verzichten ist gar kein Verzicht, sondern eine Wohltat für die Augen und den Geldbeutel.
Die Gendermisere ist auch auf Flohmärkten wohlauf und erfreut sich vieler Fans. Auch hier wird zur Begrüßung gerne gefragt, welche Geschlechtsorgane das Kind denn hat, damit man um Gottes willen nicht aus Versehen etwas mit Blumen für den Sohnemann kauft. Wo kommen wir denn da hin. (Ich gehe an dieser Stelle davon aus, dass wahrscheinlich auch alle großen Florist*innen dieser Welt Männer sind? Wie bei den Köch*innen?)
Mein Kind geht bald in die Schule und wenn ich eine Sache hingekriegt habe, dann die, dass wir noch nie zusammen ‚shoppen‘ waren. Nicht als Beschäftigung, nicht als Zeitvertreib und nicht ‚um mal zu gucken‘. Im Sommer gehen wir auf Flohmärkte, aber auch hier nicht immer gemeinsam. Ich erlaube meinem meiner Meinung nach immer noch kleinem Kind nicht wirklich, in den Entscheidungsprozess ‚Kleidung kaufen‘ mit einbezogen zu werden. Ab und zu finden wir zusammen etwas zum Anziehen, und wenn dann die Größe und der Preis stimmt, dann kaufe ich es auch. Ohne schlechtes Gewissen.
Kleidung ist hochpolitisch
Shoppen ist kein Hobby. Aus Spaß Fast Fashion zu konsumieren, hat ernsthafte Konsequenzen für sehr viele Menschen und unseren Planeten. Wer mir nicht glaubt, kann gerne @fashionchangers oder @nina.lorenzen auf Instagram folgen und lernen, dass die Textilindustrie zum Beispiel mehr CO2 produziert als der Schiffs- und Flugverkehr zusammen. Kleidung ist ein Klimakiller! Kleidung ist politisch!
Hört auf, euren Kindern in großen Ketten Klamotten zu kaufen. Geht auf Flohmärkte, da ist vieles sogar ungetragen, sollte es euch stören, wenn Kleidung bereits getragen wurde. Kauft euch Bekleidungspakete auf Ebay Kleinanzeigen. Es ist euren Vierjährigen scheißegal, wie sie rumlaufen, glaubt mir. Hört auf, eure Kinder zu H&M mitzuschleppen, dann wissen sie erst gar nicht, dass solche Läden existieren.
Konsum ist zu einem Problem geworden und wenn bei euch keiner aufs Auto, oder die Salamistulle verzichten mag, dann kauft eure Kinderkleidung Secondhand und SCHWUPPS ist euer CO2-Abdruck unter Umständen schon mal nicer als bei manchen Vegetarier*innen, die auf Fast Fashion stehen.
Der Circle of Life hat mich bei der Kiste beim Roten Kreuz starten lassen und jetzt bitte ich die konsumgeilen Eltern dieses Landes, ihre Kinder wie arme Migrant*innen in den 90ern zu behandeln. Übrigens, sowohl Primark als auch H&M schwächeln wirtschaftlich und schließen Filialen. Hihi.
PS: Lieben Gruß an die Dame, der ich in der letzten Kolumne zu viel geflucht habe. Sehen Sie, ich hab nicht einmal Ficken, Fuck, fucking oder Fickerei geschrieben. Geil wa? Ja, aber kacke und scheiße mehrfach. Hmpf. #foulmouthedwife for life!
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Wir haben eine eigene Facebook-Gruppe rund um das Thema Familie. Wir wollen uns mit allen austauschen und vernetzen, die sich für das Leben mit Kindern interessieren – egal ob ihr selbst Eltern seid oder nicht. Schaut doch mal vorbei!