Was, wenn wir den Raum für echte Veränderung neu denken? Unsere Autorin stellt in ihrer Kolumne, die erstmals im Voices Newsletter erschien, eine radikale Frage: Wie können wir die Distanz zwischen Bühne und Publikum, zwischen Worten und Taten, zwischen Privileg und Teilhabe überwinden?
Manchmal will ich schreien. Das Fenster öffnen und schreien. Auf die Straße rennen und schreien. Eine Bühne betreten und einfach nur schreien, weil es keine Worte mehr gibt für das, was um uns herum passiert. Während es auf Bühnen und Podien andauernd darum geht, Zustimmung, Gänsehaut und Standing Ovations zu erzeugen, möchte ich schreien, am liebsten körperlos, nicht aus mir als Einzelperson heraus, sondern angeschlossen an alle Menschen, die noch viel mehr Gründe haben, zu schreien und an der Welt zu rütteln und zu schütteln, bis sie die Augen aufschlägt, diese Welt, und das alles doch nur ein Albtraum war.
„Ja, nichts ist ok!“ – René Pollesch
„Ja, nichts ist ok.“ Das ist der Titel eines Theaterstücks von René Pollesch, dem Intendanten der Berliner Volksbühne, der vor einem Jahr ganz unerwartet gestorben ist. Für mich gibt es nur wenige Personen, die wie er in der deutschen Kulturlandschaft Dinge in einer Radikalität, Direktheit und Schmerzhaftigkeit auf die Bühne gebracht haben. Seine Texte kommen ohne Kleister aus. Sie sind offen, frei, sie sind für alle gemacht und für alle gemeint, nicht nur für eine kleine Elite, die sich teure Theaterbesuche leisten kann. Seine Texte haben Lücken, und diese Lücken darf das Publikum nutzen, um sie mit eigenen Gedanken zu füllen. Das fehlt uns so oft. Und aus meiner Sicht ist das ein großes Problem.
Denn die Antwort auf jede Frage kommt immer schneller, weil keine Geduld mehr da ist für ein Nachdenken, für ein Überlegen, für ein Mitsichherumtragen, bevor man etwas damit macht. Den Menschen scheint nach einfachen Antworten zumute zu sein. Nach einem einzelnen Sündenbock, auf den sich all der Frust und die Unzufriedenheit projizieren lässt. So wird es jedenfalls erzählt und beigebracht: Um bei Social Media zu verfangen, müssen wir noch schneller sprechen, am besten ohne Atemgeräusche, die auf wenige Sekunden reduzierte Aufmerksamkeitsspanne der User*innen sei schließlich gnadenlos. Aber führt nicht eben genau das dazu, dass wir am Ende mit lauter einfachen Antworten auf komplexe Fragen im Nirgendwo stehen und vor dem Hintergrund hampelnder Milliardäre und grapschender Präsidenten nicht mehr wissen, wo oben und unten ist?
„Man tanzt. Man schwebt. Das ist das Leben. Man feiert das Leben.“ – René Pollesch
Warum betritt man eine Bühne? Was möchte man auf einer Bühne sagen? Was ist das Ziel, wenn man von einer Erhöhung aus zu einer großen Masse von Menschen spricht? Wird sich danach etwas verändern? Ich habe in den letzten Jahren sehr oft Menschen auf Bühnen erlebt. Sie tragen glitzernde Stoffe. Sie sagen Dinge, die viele bewegen. Sie nehmen teil an Diskussionsrunden, und oft tun sie das mit einem enormen, bewundernswerten Selbstbewusstsein. Ich selber hielt immer wieder Reden. Und ich habe mich damit gern an viele Menschen gerichtet. Früher im Rahmen von Lesungen, was einfacher war. Heute im journalistischen Rahmen auf Bühnen, die im Zeichen von Gleichberechtigung und feministischen Werten aufgebaut wurden.
Und jedes Mal begreife ich dieses Reden von der Bühne aus als eine große Chance, die mir im Nachhinein verpasst vorkommt. Der Applaus ist fatal. Die Jubelrufe von vereinzelten Personen aus dem Publikum sind fatal. Denn nichts verpufft so schnell wie Worte in einem feierlichen Rahmen aus Glitzerkleidern und gemachten Haaren. Eine rundherum gelungene Veranstaltung gleitet aus den Händen wie ein Stück Seife. Denn wer steht dort meistens und erhebt die Stimme? Und wer hingegen ist nicht zu sehen? Und steht man automatisch an der Seite derjenigen, die dieses Privileg nicht haben, wenn man sie an dieser Stelle erwähnt?
Wir wissen, wofür wir stehen. Es gibt großartige Reden, die gehalten werden. Es gibt großartige Rednerinnen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Dinge vor einem zustimmenden Publikum auf den Punkt zu bringen. Aber jetzt, heute, 2025, vor dem Hintergrund all dieser Geschehnisse auf der ganzen Welt, kann das nicht mehr reichen. Als „vierte Wand“ wird oft die imaginäre Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum bezeichnet, und ich glaube, wir müssen sie einreißen. Zu viele Stufen führen nach oben und viel zu wenigen Menschen wird diese Möglichkeit zuteil. Geht es im Moment nicht viel mehr darum, all diese von Podesten heruntergepredigten Werte in unserem alltäglichen Zusammenleben zu installieren, festzumachen in den ganz kleinen Kommunikationen und echten Freundlichkeiten, im notwendigen Widerspruch, in einer Wachsamkeit gegenüber beiläufigen Begegnungen, in den täglichen Situationen, deren Teil wir sind, während weit und breit keine Bühne in Sicht ist?
„Unsere Liebe ist, wie die Lichtgeschwindigkeit, die einzige Konstante, die wir haben.“ – René Pollesch
Was ich meine ist nicht, dass wir jetzt alle Bühnen abreißen. Aber dass wir sie herunterziehen und die Grenze zwischen Bühne und Publikum ausradieren. Dass wir die Türen öffnen. Dass wir Ambivalenzen zeigen, und Gleichzeitigkeiten. Dass wir vielleicht auch bestimmte Dinge, die schon immer so waren, verlernen, um sie neu zu machen. So wie Pollesch das Leben und verschiedenste Lebenswirklichkeiten sichtbar gemacht hat. Die Bühne wurde ignoriert, die Schauspielerinnen haben nicht vorgegeben, andere zu sein als sie selbst. Wenn ich im Publikum sitze, fühle ich mich ihnen näher als der Person neben mir, weil sie alles zeigen, was ich in diesem Moment und eigentlich ständig bedecke.
René Pollesch starb vor einem Jahr. Eine Person, die all seine Theaterstücke und auch ihn als Mensch stark beeinflusst hat, ist die amerikanische Philosophin, Biologin und Feministin Donna Haraway. Seit 40 Jahren ist ihr Werk international bekannt, in Deutschland hingegen hat sie den Durchbruch nie so richtig geschafft. In einem Interview sagte sie: „Jeder weiß, dass Kategorien auf extrem künstliche Art die Welt spalten. Aber trotzdem klammern sich die Menschen daran. Meine Arbeit besteht darin, diese Kategorien aufzubrechen, um etwas anderes vorzuschlagen. Ich will Momente der Verwandlung und des Zusammenfalls in den Vordergrund stellen, damit wir uns eine weniger mörderische Welt vorstellen können, eine Welt, die weniger auf Ausbeutung, Gewalt, Ausrottung, Völkermord, Rassismus basiert. Eine Welt, die weniger in der Zerstörung verwurzelt ist.“
Wie wäre es, wenn wir Leben und Bühne näher aneinanderrücken? Wie wäre es, wenn wir den Blick wirklich weiten? Wenn wir Räume entstehen lassen, nicht nur an einem bestimmten Datum, sondern ständig? Räume, in denen wir uns gegenseitig darin bestärken, dass es wichtig ist, sich Zeit zu nehmen für einen differenzierten Blick auf die Zusammenhänge. Keine einfachen Antworten. Kein Applaus für eine Rede, die morgen verpufft. Keine nie und nimmer existierende schnelle Lösung für diverse komplexe Probleme.
Das ist überhaupt nicht leicht. Aber wer die Möglichkeit hat, die Wege, die ersie einschlägt, frei zu wählen, sollte jetzt keine bereits betretenen mehr nehmen. Wir und alle Lebewesen dieser Erde haben eine gemeinsame Zukunft! An einer bestimmten Stelle verknüpft sich jeder Faden und vernetzt sich. Diese stark vernetzte Welt stellt hohe Ansprüche an uns. In ihr tragen wir eine große Verantwortung.
„An die Nachgeborenen:
Das Hier und Jetzt ist
Der Schlüssel für
Den Umgang mit der Welt“
– René Pollesch
Quellen:
René Pollesch: Rede an die Nachgeborenen (nachjustiert)
Donna Haraway: „Unruhig bleiben“, Campus Verlag, 2018