Foto: Thomas Pirel

Sylvia Whitman: „Unsere Gesellschaft erwartet, dass Frauen Wonder Women sind“

Seit 1951 ist Shakespeare and Company mehr als eine Buchhandlung. Sylvia Whitman bewahrt den Geist der Institution, ohne im Amazon-Zeitalter zu veralten.

 

Mit mehr Flexibilität geht alles

Nach ihrem Studium in England und Schottland kehrte Sylvia nach Paris zurück, um in die Fußstapfen ihres Vaters George zu treten. Damals war sie 25 und ihr Vater eine lebende Legende. Im Independent-Bookstore des eigenwilligen, selbsterklärten Kommunisten fanden bereits Generationen von Autoren, darunter Allen Ginsberg, Henry Miller, Anaïs Nin, William Styron, Martin Amis, Zadie Smith und Dave Eggers, ein Zuhause in der französischen Metropole.

Wir haben mit ihr darüber gesprochen, warum Shakespeare & Co. nicht nur ein Geschäft, sondern auch ein soziales Projekt ist und was sie durch ihr Kind in Sachen Unternehmensführung dazugelernt hat.

Dein Vater George wollte immer, dass du seine Nachfolge antrittst. Aber du hast erst einmal in England und Schottland studiert und es war nicht sicher, ob du seinem Wunsch nachkommen würdest. Was hat dich überzeugt?

„Ihm gefiel die Idee, dass sein Lebenswerk in der Familie bleibt. Aber ich war sehr an Theater interessiert. Ich liebte Tschechow und Oscar Wild. Der Wendepunkt kam, als ich mit Anfang Zwanzig nach Paris zurückkehrte und meinen Vater besser kennenlernte. Seine Persönlichkeit und der Buchladen waren komplett ineinander verschlungen, das eine existierte nicht ohne das andere. Davon fühlte ich mich magisch angezogen, ich musste einfach bleiben.“

Seither ist dein Leben eng mit Shakespeare and Co. verbunden. Geöffnet habt ihr sieben Tage die Woche, bis abends um elf. Wie findest du da die Balance zwischen Arbeit und Privatem?

„Das frage ich mich auch immer. Erst habe ich den Buchladen mit meinem Vater geführt, jetzt ist mein Mann David der Co-Manager. Es ist also alles vermischt – und ich liebe es. Ein Geschäft so zu führen macht es zu mehr als nur einem Job. Es ist ein Lebensgefühl. Aber ich versuche immer meine Grenzen auszuloten, für mein eigenes Wohlergehen und um Zeit zum Lesen zu finden. Um in eine Geschichte eintauchen zu können, braucht es schließlich diesen geistigen Freiraum.“

Vor kurzem bist du Mama geworden. Wie gelingt es dir zugleich Geschäftsfrau und Mutter zu sein?

„Das ist eine interessante Frage. Ich habe den Eindruck wir leben in einer Gesellschaft, in der erwartet wird, dass Frauen Wonder Women sind. Wir sollen großartige Karrieren machen, Kinder kriegen und gleich wieder zur Arbeit gehen – wie es die französische Politikerin Rachida Dati gemacht hat. Ich habe Glück, denn ich bin hier sehr flexibel. Wenn ich mir den Morgen freinehmen möchte, weil ich mit Gabriel, meinem Sohn, zusammen sein will, dann kann ich das einrichten. Außerdem kann ich ihn mit in den Buchladen nehmen. Ich genieße es sehr mit ihm hier zu sein. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als kleines Kind im Buchladen war und ich denke es ist ein toller Ort für Kinder. Hier trifft man auf so viele interessante Menschen und wunderbare Geschichten. Das ist für jeden, und ganz besonders für ein Kind, sehr bereichernd.“

Hat sich deine Perspektive als Arbeitgeberin verändert, seit du selbst ein Kind hast?

„Zurzeit sind alle noch sehr jung. Aber wenn meine weiblichen oder auch männlichen Mitarbeiter mal Eltern werden, möchte ich auch ihnen diese Flexibilität ermöglichen. Ich denke es ist ein spannender Augenblick im Hinblick auf die Gleichberechtigung, die wir bisher erreicht haben. Aber ich habe das Gefühl jetzt sind wir fast zu einem anderen Extrem übergegangen, indem wir die physische und die emotionale Seite ignorieren. Das Leben ist eine gewaltige physische Erfahrung und Eltern zu werden ist ein kostbarer Moment, den man genießen sollte. Wir brauchen Arbeitsmodelle, die das berücksichtigen.“

Shakespeare & Co. entwickelt sich kontinuierlich weiter. Du hast ein Literatur- und Kunstfestival, sowie einen mit 10.000 Euro dotierten Preis für unveröffentlichte Schriftsteller etabliert. Was ist als nächstes Geplant?

„Gerade arbeiten wir sehr intensiv an der Geschichte des Buchladens, die im Juli erscheinen wird. Außerdem hätten wir gerne ein richtig gutes Café. Und wir wollen etwas mehr Platz für unsere Tumbleweeds, junge Autoren, die bei uns zu Gast sind, schaffen. Es kommen wirklich viele Autoren her, für die Paris sonst unerschwinglich ist und die gern als Teil unserer Gemeinschaft hier im Buchladen leben. Sie schlafen kostenlos auf einer der Liegen im oberen Stockwerk und helfen dafür ein bisschen im Laden mit. Den Rest des Tages können sie sich dann dem Schreiben widmen. Es ist sehr organisch. Oben entsteht Literatur, unten werden Bücher gelesen und verkauft.“

Es nächtigten schon viele, teils heute bekannte Literaten als sogenannte Steppenläufer auf einer der Liegen im oberen Stockwerk. Ist es das, was die Seele dieses besonderen Ortes, im sonst so touristischen, kommerziellen Cartier Latin bewahrt?

„Absolut. Es gibt so viele Orte, an denen man Bücher kaufen kann, doch die Tumbleweeds machen Shakespeare & Co. zu mehr als einem Geschäft. Sie machen es zu einem sozialen Projekt und geben unserer Tätigkeit eine tiefere Bedeutung. Mir war immer bewusst, wie wichtig dieses nichtkommerzielle Gegengewicht ist. Sonst ginge es nur darum Geld zu verdienen und Rechnungen zu bezahlen.“

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