#unartig – Warum wir über Geld reden müssen.
Es wurde lange vermutet, dass soziale Ungerechtigkeit und schlechte Bezahlung die Wähler nach rechts treibt. Nach der Wahl ist klar: Es geht den rechten Wählern nicht um prekäre Lebensverhältnisse, es geht ihnen um einen Kulturkampf.
Bei mir hinterließ das folgende Frage: Wenn die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland so groß ist, wenn in kaum einem anderen OECD-Staat die soziale Herkunft so eng verknüpft ist mit Bildung und Verdienst, wenn die einen immer mehr Geld verdienen (zehn Prozent der Bevölkerung besitzen mehr als 50% des gesamten Nettovermögens) und wenn sich sehr viele junge Menschen (viele von ihnen Akademiker*innen) von einem schlecht bezahlten Job zum noch schlechter bezahlten Job hangeln, vom Minijob zur Zeitarbeit und froh sind, wenn es kein unbezahltes Praktikum ist, für die es wie ein Lottogewinn ist, eine unbefristete Stelle in Vollzeit zu bekommen – wieso sind diese Menschen in Deutschland nicht wütend? Warum gehen sie nicht auf die Straße? So wie in Spanien, Frankreich, England, Italien, den Niederlanden usw.
Wieso sind es die Menschen mit der Angst vor kultureller Überfremdung, die sich so laut und aggressiv gebärden und die große Demos veranstalten? Und warum in Ostdeutschland, wo nur jede 20. Person einen Migrationshintergrund hat? Davon sind 33% in Deutschland geboren und über die Hälfte hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Wenn die Menschen wegen selbst geschaffener Gespenster auf die Straße gehen, warum fehlt der Antrieb zur Gegenbewegung bei der zum Himmel schreienden sozialen Ungerechtigkeit? Warum gibt es keine gleich starke Bewegung nach links, wie es sie nach rechts gibt?
Klar geht es Deutschland wirtschaftlich gesehen insgesamt gut. Ich spreche vor allem von den jungen Menschen. Denen geht es im Vergleich zu vor 40 Jahren deutlich schlechter, trotz insgesamt höherem Bildungsstand. Die bis 30-Jährigen sind wahrscheinlich die erste Nachkriegsgeneration, die nicht den Wohlstand der Eltern erreichen wird. Oliver Nachtwey von der Uni Basel nennt es „Die Abstiegsgesellschaft“. Es findet eine steigende Prekarität von Arbeitsverhältnissen statt. Die Politik verbietet nicht, dass Unternehmen und Institutionen ohne Grund befristet einstellen, dass Angestellte durch Minijobber, Leiharbeiter und schlecht bezahlte Selbständige ersetzt werden, dass sogar öffentliche Institutionen wie Schulen nicht angemessen bezahlen.
Ich spreche alle Menschen an. Ich spreche aber vor allem die an, die sich in der Kulturellen Bildung verorten, denn das ist mein Fachgebiet. Ich setze mich als Geschäftsführerin von ACT e.V. täglich mit der Honorarverordnung der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen, mit europäischen Förderrichtlinien, mit Höchststundensätzen von Stiftungen und mit der daraus resultierenden prekären Bezahlung unseres Teams auseinander.
Momentan ist es so, dass bei nahezu allen Förderungen der Höchststundensatz für die Theaterpädagog*innen bei 25€ pro Schulstunde brutto liegt, Vor- und Nachbereitung, Auf- und Abbau und Teamtreffen inbegriffen. Ich habe mir die Mühe gemacht auszurechnen, wie viel von diesen 25€ bei einem Freiberufler nach allen Abzügen zum Leben übrigbleibt:
Ziehen wir 19% Umsatzsteuer ab, bleiben 21,00€, berechnen wir Einkommenssteuer von 15%, bleiben 18,26€. Pro Schulstunde können wir im Durchschnitt 1 Schulstunde Vor- und Nachbereitungszeit einplanen,
bleiben 9,13€. Ziehe ich die Krankenversicherung ab (300€/Monat), bleiben 7,40€. Möchte ich später eine Rente beziehen, muss ich eine private Rentenversicherung abschließen (sagen wir 250€/Monat), dann bleiben mir 5,96€. Rechne ich damit, dass ich bei einem Vollzeitjob 40 Schulstunden à 45 Minuten pro Woche für die Projekte arbeite, dann bleiben 10 Zeitstunden für Teamtreffen, Akquise, zum Teil lange Fahrtzeiten für kurze Arbeitseinheiten, Werbung, Kommunikation mit den Kooperationspartnern, Vorbereitung der Aufführungen usw. Verdiene ich nach allen Abzügen 5,96€ pro Stunde, nehme ich mir wie jeder Arbeitnehmer 6 Wochen Urlaub im Jahr, dann bleiben mir bei einer 40 Stundenwoche 913,87 € zum Leben – für einen überaus verantwortungsvollen Beruf.
Also ich persönlich finde: es reicht!
Ich will, dass wir gemeinsam unsere Stimme erheben und laut werden. Ich will, dass wir endlich staatliche Eingriffe und Umverteilung fordern. Ich will über Geld reden und mich nicht dafür schämen. Ich will, dass wir angemessen verdienen, ohne als Kapitalistin beschimpft zu werden. Denn genau dieses Tabu, über Geld zu sprechen führt unter anderem dazu, dass sich die unangemessene Bezahlung seit Jahren nicht verbessert.
Boltanski und Chiapello nennen es die „Künstlerkritik“. Hier geht es um die Selbstverwirklichung von Künstler*innen und um eine Kritik am Überfluss. Es scheint in den Kreisen der Kunst und der Kulturellen Bildung verpönt, mehr Geld zu fordern und angemessen verdienen zu wollen. Geld wird nicht so wichtig genommen, es wird mit dem Kapitalismus gleichgesetzt. Dies kommt jedoch einer Verherrlichung des Prekariats gleich, verkleidet als eine Form des idealistischen Daseins. Mit dieser Haltung werden die wahren Machtverhältnisse verschleiert und es wird eine Komplizenschaft mit dem gegebenen System eingegangen.
Nur wer weiß, wie er seine Miete zahlt, kann es sich leisten, vom Idealismus zu leben!
Wer finanziell auf sich alleine gestellt ist, vielleicht noch eine Familie ernähren muss, der spürt die Folgen der Künstlerkritik am Deutlichsten. Doch diese Gruppe ist relativ klein. In Deutschland werden sehr viele junge Menschen im und nach dem Studium von den Eltern, die höheren Wohlstand erlangen konnten, als wahrscheinlich jemals ihre Kinder, finanziell unterstützt. Dieses Einspringen füllt die Lücke, die die Politik versäumt zu schließen. Indem die Eltern als Lohnzahler für Auftrag- und Arbeitgeber einspringen, halten sie den Mechanismus der sozialen Ungerechtigkeit aufrecht.
Wir können uns weiter einreden, dass „Geld nicht alles ist“, wir unseren Beruf mit Leidenschaft ausüben und damit ein höheres Ziel verfolgen. Uns muss aber bewusst sein, dass das nur diejenigen sagen können, die wissen, wie sie ihre Miete zahlen – die anderen müssen sich einen neuen Beruf suchen! Denn de facto können es sich in Deutschland nicht alle Menschen leisten, einen Beruf in der Kulturellen Bildung auszuüben, weil sie keine Eltern haben, die im Notfall mit Geld aushelfen können.
Wir setzen uns beruflich ein für Diversität, Autonomie, Bildungsgerechtigkeit und Zugänge jenseits von Herkunft, verrichten aber eine Arbeit, die nur eine bestimmte privilegierte Schicht ausüben kann. Kulturelle Bildung wird als Lösung aller Probleme gehandelt, ihr wird in der Öffentlichkeit eine so große Bedeutung beigemessen wie nie zuvor. Durch sie werden Werte ausgebildet – und die brauchen wir dringend! In der Praxis findet Kulturelle Bildung jedoch nur statt durch die Ausbeutung der Kulturschaffenden.
Die Ungerechtigkeit wirkt sich aufgrund sozialer Ungleichheiten nicht auf jeden in gleichem Maß aus. Es geht aber um mehr, als um uns als Einzelpersonen: es geht um Chancengleichheit, um wirkliche soziale Gerechtigkeit und es geht um die Generationen, die nach uns kommen. Die junge Generation von heute wird die schlechte Bezahlung der eigenen Kinder in 20-30 Jahren nicht auffangen können.
Wenn nicht jetzt – wann dann: Wir Kulturschaffenden müssen aufstehen und unsere Stimme erheben.
Erzählt eure Geschichte!
Macht unter dem #unartig auf unfaire Bezahlung aufmerksam!