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Das intime Leben der Anderen

Manche mögen sich noch an Zeiten erinnern, in denen es als respektlos galt, beim Schulsport durch das Schlüsselloch der Jungen- oder Mädchenkabine zu schielen. Heute, so scheint es, braucht es kaum noch ein Schlüsselloch, um am „Leben der Anderen“ teilzunehmen, bieten soziale Netzwerke doch die Möglichkeiten, Mitmenschen zu lesen wie ein offenes Buch. Von Selbstdarstellung, Neugierde und dem heimlichen Unwohlsein des Voyeurs.

 

Wir Menschen sind neugierig und das müssen wir auch sein. Ohne Neugierde wären wir in der Steinzeit nicht aus der sicheren Höhle aufgebrochen, um die Welt „da draußen“ zu erkunden, wüssten nicht, dass die Erde keine Scheibe ist und wie man auch schwere Krankheiten erfolgreich bekämpfen kann. Kurz: Neugierde erweitert jedermanns Wissens- und Erfahrungsspektrum und ist beizeiten sogar überlebenswichtig. Für die Gattung des „Homo Sapiens“ ebenso wie für Tiere, die auf die Erkundung neuer Reviere angewiesen sind. Deswegen verschlingen wir auch gierig jede Information, die unsere Mitmenschen uns präsentieren. Eine besondere Plattform bieten dafür soziale Netzwerke im Internet, in denen zum Teil die intimsten Gedanken und Eindrücke aus dem „Leben der Anderen“ wie eine aufgeschlagene Seite vor uns liegen. Mal ehrlich – wer gerät da nicht in Verlockung, „nur mal kurz“ zu klicken und es sich anzuschauen?

Auf großer Bühne

Geht es darum, etwas von seinem letzten Monatsgehalt zu spenden oder jemandem sein Auto zu leihen, ist der kapitalistisch denkende Mensch erstaunlich starrsinnig, was die Grenzen zwischen „meins“ und „deins“ betrifft. Gerade, wer am meisten hat, gibt ungerne etwas davon wieder ab. Bei manchen Zeitgenossen zeichnet sich diese Tendenz zu etwas, das ich hier als „materiellen Egoismus“ bezeichnen möchte, schon im Sandkasten ab und zieht sich durch den gesamten Lebenslauf. Erstaunlicherweise erhöht sich die Bereitschaft zum Teilen geradezu exponenziell, wenn es darum geht, den eigenen Status, Körper oder Lebensstil in aller Öffentlichkeit zu zelebrieren. Davon ist nicht zuletzt die „virtuelle Bühne“ in Form von Twitter, Facebook, Instagram und Pinterest betroffen, wo sich die digitale Gemeinde trifft, um über #foodporn, #HappyLifeGoals, #fashionrules und #Brealfies zu diskutieren und sich – jeder für sich natürlich – zu profilieren sucht. Hashtags, oder ganz altmodisch, „Schlagwörter“, hier ganz zufällig gewählt. Manch zufälliger Webseiten- oder Profilbesucher mag davon angetan sein, mancher hätte sich jedoch gewünscht, niemals seiner Neugierde nachgegeben zu haben. Denn er sieht mehr und Intimeres, als er von wildfremden Personen jemals sehen wollte.

Eine ständige Grenzüberschreitung

Natürlich hat jede Lust am Zeigen und Beobachten zwei Perspektiven – die des Exhibitionisten und die des (mehr oder weniger freiwilligen) Voyeurs. Für viele Menschen sind Exhibitionismus und Voyeurismus sogar ein echter, reizvoller Fetisch. Andere wiederum, und dazu möchte ich mich selbst zumindest in Hinblick auf das Intimleben Unbekannter zählen, fühlen sich davon schlicht überfordert. Vor allem dann, wenn einem Informationen und Einblicke auf dem Silbertablett serviert bekommt, auf die man von sich aus lieber verzichtet hätte. Erinnert sich jemand hier an den Songtext der „Ärzte“: „Das sind Dinge, von denen ich gar nichts wissen will“? Diese simple Liedzeile trifft im Grunde ganz gut das Gefühl, wenn ich durch mein Newsfeed scrolle und mir immer wieder sinnlose Nacktselfies irgendwelcher Reality-TV-“Promis“und „ungeschönte“ Bilderstrecken über die Hausgeburten wildfremder Menschen quasi ungefragt entgegenspringen. Die Menschen auf den Bildern werden für mich deswegen nicht zu verachtenswerten Ungeheuern, schließlich entscheidet jeder selbst, was er dokumentieren und mit seiner Umwelt teilen möchte. Mich wurmt eher die Selbstverständlichkeit, mit der gerade in „freien Meinungsmedien“ davon ausgegangen wird, dass jeder andere User wirklich alles sehen will. Die Wahrheit ist: Nein, ich möchte manche Dinge und Motive auf Bildern wirklich nicht sehen. Den nackten Hintern einer gewissen Kim Kardashian-West habe ich zu oft gesehen, um ihn nur noch annähernd interessant oder gar ästhetisch zu finden und ja, ich weiß, wie das aussieht, wenn ein Baby an Mamas Brust trinkt. Familienalbum lässt grüßen, zumindest für diejenigen, die etwas derart „Altmodisches“ noch kennen. A propos Brüste und sonstige Körperteile: Es ist mir herzlich egal, wie „echte Frauen ohne Photoshop“ nackt aussehen. Ich kenn das, wirklich, ich bin selbst eine. Und mein heimischer Spiegel kann kein Photoshop mit Weichzeichner. Aber wenn jemand jemals solche Spiegel erfinden würde, wäre das sicher ein Verkaufshit für alle Selfie-Hobbyfotografen dieser Welt. Bin ich eigentlich die Einzige, die das Gefühl nicht los wird, dass ihre visuellen Intimgrenzen andauernd überschritten werden? Geht man nach den Kommentaren unter mancher Fotostrecke, anscheinend nicht. „Muss man eigentlich heute alles ins Internet stellen?“, fragen viele Kommentatoren – und um ehrlich zu sein, manchmal frage ich mich das auch.

Voyeure wider Willen

Persönliche Grenzen sind eine heikle Angelegenheit und immer ein Drahtseilakt von Nähe und Distanz. Was dem Einen „zu viel Information“ ist, ist dem Nächsten womöglich noch zu wenig. Im nahen Umfeld ist es oft, wenn auch nur mit guter Menschenkenntnis, möglich, die Grenzen des jeweils Anderen zu erkennen und zu respektieren. Doch wie soll man eine solche Abstimmung von Bedürfnissen auf einer Plattform wie Facebook oder Instagram schon leisten, auf denen sich Millionen Nutzer tummeln? Nicht verwunderlich, dass viele Nutzerinnen und Nutzer bei Darstellungen, die sie als „zu intim“ empfinden, sich wie ein unfreiwilliger Voyeur vorkommen, der durch ein falsches, viel zu großes Schlüsselloch schaut. Ich selbst würde zum Beispiel nicht freiwillig Geburts- oder Stillbilder machen lassen und veröffentlichen; ebenso wenig, wie ich der Welt mein Mittagessen zeigen möchte. Oder meine neueste Unterwäsche, die an mir sowieso nicht aussieht wie an einem Victoria’s Secret-Model und deswegen wohl auch kaum viele Likes einfahren würde, nebenbei bemerkt. Und warum zur Hölle sollte ich aller Welt meine „Tigerstreifen“ präsentieren, die halt mit einer Schwangerschaft oft und bei sehr vielen Frauen in einem Schub kommen? Kurz: Ich finde, manche Dinge und Eindrücke aus meinem Privatleben gehen fremde Menschen einfach nichts an. Was manch andere Nutzer betrifft, die mit mir zusammen den virtuellen Raum „bewohnen“, setzen diese ihre eigenen Grenzen. Nur eines wünsche ich mir: mehr Wahlfreiheit darin, was meine Grenzen bewahrt und was mir (und vielen anderen Usern) zu weit geht. Da lobe ich mir bei Facebook den Button „Ich will das nicht sehen“. Auch wenn diese Funktion sicherlich noch ausbaufähig ist.

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