Foto: Pexels

Zuversicht und Zusammenhalt statt German Angst – wie wir das schaffen können

Wer oder was ist das eigentlich: „Wir“? Oder noch mehr hinterfragt, wo hört das Ich auf und wo fängt das Wir an in einer Zeit geprägt von Wandel, Flüchtlingswellen und Anschlägen?

 

Menschen wollen sich zuordnen

In den letzten Monaten
haben wir hier in Deutschland – und nun beziehe ich mich insbesondere auf
meinen Lebensmittelpunkt Berlin – ganz neue Formen des „wir“ erlebt. Der Mensch tendiert ja ganz allgemein dazu, sich
zuzuordnen: zum Sportverein, zu einer Musikrichtung oder zu einer Lebensform. Diese Zuordnungen ergänzen das Selbstverständnis, ermöglichen eine soziale
Assoziation und geben Sicherheit. So fühlen wir uns, ob bewusst oder unbewusst,
als Teil von einem „wir“.

Das Ich ist oft ein Rädchen in der Leistungsgesellschaft

Aber dann gibt es noch das
Ich: Dieses Ich ist meist ein Rädchen in unserer Leistungsgesellschaft, das
sich herausheben, Kompetenzen entwickeln und individualisieren muss. Das Ich, das mir hier besonders in den Sinn
kommt, ist eines, das seit Jahren nach Karriere strebt. Dieses Ich hat vielleicht vor Kurzem noch studiert,
dann angefangen, seine Vita zu optimieren, tolle Praktika gemacht, große
Firmennamen auf die Liste Lebenslauf gepackt und schließlich die ersten Jobs
bei Beratungen, Unternehmen und Startups angenommen. Das High-Potential-Ich hat sich dabei so an den ständig sich wiederholenden Zyklus nach oben gewöhnt, ist so geschickt in diesem Laufrad der Optimierung
geworden, dass es zunehmend sich selbst als privates Ich vergessen hat.

Kommt euch dieses Ich bekannt vor? Habt ihr auch schon einmal in den Spiegel geschaut
und euch gefragt, welche Person, welches Ich,
eigentlich hinter der Fassade des perfekten Lebenslaufs steckt? Oder mehr
noch, wer ihr sein würdet, hätte euch das Laufrad nicht so sehr mit sich
gerissen?

Habt ihr auch schon einmal in den Spiegel geschaut und euch gefragt, welche
Person eigentlich hinter der Fassade
des perfekten Lebenslaufs steckt?

Was mir aber zu diesem Ich in meiner persönlichen Selbstkritik
noch aufgefallen ist: Es ist ein sehr egozentriertes Ich. Bedingt durch den ewigen Druck und Zeitmangel, über den sich
das erfolgreiche Ich weitestgehend in
unserer Gesellschaft definiert, ist es auch dazu gezwungen, egoistisch zu
agieren. Zum einen geht der Egoismus nach außen: Vor einem Treffen mit
Freunden muss dieses ich in den
Kalender schauen. Im besten Falle bekommt der Freund dann eine Einladung in
zwei Wochen für ein Dinner: „Wir können
ja mal dieses hochgelobte neue Restaurant ausprobieren. Da wollte ich schon
ewig hin. Ich muss aber am Tag danach früh raus. Kommt euch das bekannt
vor? Wie oft fragt man sich bei so einer Nachricht, ob der andere nicht
eigentlich Zeit, Ruhe und Freundschaft auf einem stillen Sofa mit einer
aufrichtigen Umarmung unter Freunden brauchen würde?

Dieser Egoismus geht aber genauso
nach innen: Wie viel Zeit bleibt denn auch zwischen all den Terminen, der
Arbeit und dem Laufrad für sich selbst? Wie oft hört man noch auf die innere
Stimme, die vielleicht irgendwo noch ganz leise flüstert: „Hey, ich brauche mal eine Pause. Ich muss mal wieder atmen.“

Hey, ich brauche mal eine Pause. Ich muss mal wieder atmen.

All das funktioniert, so
lange unsere Welt von außen scheinbar in Ordnung ist. So lange können die
vielen gezwungenen, leistungsgetriebenen Ichs,
die ja letztlich nur wieder Teil eines „wir
sind, immer weiter im Rad laufen. Aber dieses Kollektiv, dieses „wir, ist verunsichert. Denn plötzlich
haben die vielen kleinen Ichs im
Laufrad erlebt, dass es vielleicht nicht ewig so weitergeht und sie, trotz all
ihrer Erfolge und Überzeugungen, nicht allmächtig sind. Im nahen Paris sind
Bekannte und Freunde von Anschlägen betroffen gewesen. Und im noch näheren
Deutschland, Berlin, kommen tausende, hilfesuchende Menschen an, die unsere
Überzeugungen in Frage stellen. Diese Menschen passen nicht mehr in unsere
Schemen der Leistungsgesellschaft, sie passen weder in unser Bild von „ich noch in das von „wir.

Nach Paris und Flüchtlingswellen drehten sich die Gespräche plötzlich um
unsere Zukunft als eine integrierte Welt.

Und das ist vielleicht gut
so, um uns selbst wieder etwas aufzurütteln. Denn in den letzten Wochen habe ich
erst unbewusst und nun zunehmend bewusster erlebt, wie die vielen kleinen Ichs in meinem Lebensumfeld – im
Freundeskreis, auf der Arbeit, auf Reisen ­– angefangen haben, neue Themen
aufzugreifen. Statt um Arbeit, den Chef, die nächste Beförderung oder den
großen Startup-Exit, ging es um Verunsicherung, aber auch Freundschaft,
Familie, Werte und unsere Zukunft als eine integrierte Welt. Plötzlich wurde
und wird das „wir und „ich in ein neues Licht gestellt, unter
dem auch Aspekte wie Dankbarkeit für unser friedliches Dasein, unseren
allgemeinen Wohlstand und das Bewusstsein der Hilfsbedürftigkeit anderer
beleuchtet werden. Ich möchte hier in keinem Falle Flüchtlingswellen,
Terrorismus oder Krieg gutheißen. Aber ich sehe kleine Pflänzchen von Werten
in unserer Leistungswelt sprießen, die uns helfen könnten, die
Herausforderungen, die dadurch entstehen, durch Zusammenhalt und Miteinander
anzugehen, statt ihnen mit Hass und Unverständnis zu begegnen.

Ich bin stolz auf die
vielen Ichs in meinem Lebensumfeld,
die ein wenig zu diesem neuen „wir beitragen.
Ich glaube auch fest daran, dass viele dieser Ichs langfristig unsere Welt ein wenig besser machen können und
aus den ersten zarten Pflänzchen ein Garten für Gutes werden kann.


Mehr bei EDITION F

Über die Kunst, wirklich bei sich zu bleiben – jenseits aller Ratgeber und Methoden. Weiterlesen

Erfülltes Arbeiten: Herausfinden, was uns wirklich motiviert. Weiterlesen

Der große Wunsch nach Veränderung: Wofür lebe ich? Weiterlesen

Anzeige