Essen ist etwas Wunderbares und Essenzielles: Genuss für alle, die ihn sich leisten können und ein endloses Experimentierfeld. Neben den sogenannten Superfoods Chia und Co. ist nun auch im deutschsprachigen Raum Clean Eating ein Trend. Doch gibt es das überhaupt … sauberes Essen?
Siegeszug der Samen
Die Filiale der Bäckereikette nebenan führt Chiasamenbrot, in Fitnessstudios machen bunte Eiweißpulverfässer pflanzlichen Hanfproteinen Platz. Man spricht von Super- oder Powerfoods und damit von Lebensmitteln, die als besonders nahrhaft und vitalitätsfördernd gelten. Maca, Matcha, Acai, Spirulina und Gojibeeren gehören zu den Gewächsen, die uns längst auch außerhalb von Bioläden und Großstädten begegnen. Oft werden die Superfoods beworben mit den Geschichten ihrer Herkunft, sei es Chia als Saat der Maya oder die Gojibeere aus dem Himalayagebiet.
Essen und Heilsversprechen
Der Nutzen von Superfoods wird auch in der ayurvedischen Ernährungstherapie diskutiert und bisweilen hoch eingeschätzt. Manche sind davon überzeugt, dass jede Krankheit auf Ernährung beziehungsweise unzulängliche Verdauung zurückzuführen ist und suchen entsprechend auch hier nach Heilung. Grüne Smoothies und Detox sind prominente Schlagworte. Vieles an einem solchen ganzheitlichen Blick auf Ernährung, Gesundheit und Wohlbefinden scheint vielversprechend. Problematisch wird es dann, wenn man diesen Blick absolut setzt und davon ausgeht, jeder Mensch sei tatsächlich, was er oder sie isst. Im guten wie im schlechten, „gesunden“ und „ungesunden“. Auch viele der großen Blogs zu Clean Eating und Superfoods – seien es deutsch- oder englischsprachige – enthalten eine persönliche Krankheitsgeschichte der BloggerInnen und schildern ihre positiven Erfahrungen mit Essen als Spender von Gesundheit und Wohlbefinden. Doch wie es Teresa Bücker jüngst bereits im Kontext von Fitnesstracking treffend beschrieben hat: „Gesundheit ist etwas, das sich jeden Tag ändern kann.“ Was hat es also mit den Versprechen des Clean Eating auf sich, woher kommt es und wie hoch ist sein Trend-Potenzial?
Die Post-Diät
Clean Eating bezeichnet einen Ernährungstrend, bei dem danach gestrebt wird, möglichst natürliche, unbehandelte, eben „cleane“ Lebensmittel zu konsumieren. Unter dem Namen „Eat-Clean-Diet“ bekannt gemacht hat dies die US-amerikanische Bestsellerautorin Tosca Reno.
Sie verkauft seit 2007 weltweit Millionen Bücher zur Eat-Clean-Diet, die sie explizit nicht als gewöhnliche Diät und stattdessen als revolutionäre Umwälzung von Lebens- und Ernährungsweisen präsentiert – ausgehend vom US-amerikanischen Kontext, aber als prinzipiell universales Konzept. Auch einige deutschsprachige Clean-Eating-BloggerInnen nehmen Bezug auf Reno. Häufige Überschneidungen ergeben sich dabei mit Vegetarismus und Veganismus, glutenfreier und roher Ernährung, sowie den bereits erwähnten Superfoods. Es kann außerdem mit Phasen des Fastens, „Detox“ oder „Juicing“ kombiniert werden. Dabei erinnert Clean Eating in vielem an die Naturheilbewegung des 19. Jahrhunderts, in der ähnliche Ernährungswege, Fasten und Massagen als heilend galten, wie es Sabine Merta in ihrem Buch „Schlank! Ein Körperkult der Moderne“ von 2008 beschreibt.
Und egal wie genau es ausgelegt wird – die Vorstellung, dass veränderter Nahrungskonsum zu einem veränderten Selbst führt, ist im Clean Eating allgegenwärtig. Das zeigt nicht zuletzt die von Reno erstellte „Body Beautiful/Body Healthy Formula“, ein einfaches Diagramm, mit dem sie den Geist des Clean Eating in Zahlen fasst: So hinge körperliche Gesundheit und Schönheit zu 80 Prozent von Ernährung und nur von je 10 Prozent von genetischer Veranlagung und Sport ab.
Clean Eating-Blogs: Essen und sich selbst lieben
In deutschsprachigen Blogs wie „Eat Train Love“, „Projekt: Gesund leben“ oder „Balance-Akt“ machen sich die Bloggerinnen das Konzept auf ihre Weise zu eigen. Sie laden Rezepte, Videos und Tipps zur Integration einer „cleanen“ Ernährungsweise in den Alltag hoch. Viele Expertinnen der persönlichen Webseiten grenzen sich deutlich vom exzessiven Kalorienzählen, sowie dem Begriff der Diät und ab. Stattdessen wird ein auf Dauerhaftigkeit angelegter Lifestyle als Weg zu Gesundheit, Wohlbefinden und mehr Selbstbewusstsein beworben. Gleichzeitig wird ständige Achtsamkeit und ein auf sich und seine Bedürfnisse hören in den Vordergrund gestellt. Essen wird als alltagsstrukturierende Insel der Entspannung und Selbstliebe eingeführt, ein scheinbar verloren gegangener positiver Bezug dazu hochgehalten. Die neuentdeckte Freude am Kochen und Essen, die sich online an zahlreichen Social-Dining-Formaten wie Eat With und Startups wie The Bread Exchange oder Food Exchange zeigt, findet auch in der Clean-Eating- und Superfood-Community ihren Niederschlag.
Dabei wäre es falsch, Ernährungstrends wie diese schlicht als weitere Stufe einer problematischen Selbstoptimierung zu deuten. Gedankenanstösse hierzu liefert die Journalistin Katie Baker mit ihrem buzzfeed-Artikel „Teenage Girls Are Using Instagram To Fix Their Relationships With Food“. Sie interviewt darin Teenagerinnen der weltweiten Superfood-Community, die mit ihren Fotos detailverliebt hergerichteter und reich dekorierten Frühstücksschalen Tausende Follower auf Instagram haben. Einige von ihnen, so Baker, erholten sich gerade von Essstörungen und suchten nach neuen Wegen der Selbstliebe durch Liebe zum hingebungs- und genussvollen Essen.
Kein neues Phänomen
Die Soziologin Eva Bärlosius bezeichnet 2011 Diäten als „reglementierte Ernährungsstile“, die sich auf bestimmte Formen von Ernährungswissen beziehen und von einer grundsätzlichen Beeinflussbarkeit des individuellen und gesellschaftlichen Wohlseins durch Nahrung ausgehen. Sie beschreibt weiter, dass man derartige Diäten bis in die griechischen Antike zurückverfolgen kann, wo sie unter dem Namen Diätetik liefen. Hier wurde Ernährung die Einflussnahme auf alle erdenklichen Bereiche menschlichen Lebens zugesprochen, darunter Wirkungen auf den Körper, den Charakter bis hin zur politischen Ordnung. Entsprechend bedeutsam war eine reglementierte Diätetik, die ein ausgewogenes Leben im Einklang mit der sozialen Ordnung – jedem das Essen, das ihm gerechterweise aufgrund seines Standes zusteht – fördern sollte.
Vermutlich gibt es also wenig Menschlicheres, als den Drang, das eigene Leben über Esskultur zu gestalten. Dennoch mutet die Trennung in saubere und pure versus krankmachende, verfälschte Nahrung, die der Begriff Clean Eating implizit nahelegt, vermessen an. Transparenz, alternative Heilungsmethoden und bio? Warum nicht, aber eine volle Kontrolle oder definitives Wissen wird es nie geben, wenn es um die Auswirkungen von Ernährung auf unsere Gesundheit geht. Und trotzdem: Viel Vergnügen bei allem, was ihr kocht oder euch zum Appetimachen – online oder wo auch immer – anseht.
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