Sexistische Kommentare von Mitschüler*innen und Lehrkräften, männlich und heteronormativ geprägte Lehrpläne – Schulen sind sexistische Orte. Was muss passieren, damit sich das ändert?
„Ich bräuchte mal starke Jungs, die mir tragen helfen“; „Wer von den Mädchen mit schöner Handschrift kann mal an die Tafel kommen?“; „Du wirfst ja wie ein Mädchen“. Kommt euch irgendwie bekannt vor? Sätze wie diese gehören bis heute zum Alltag in Schulen. Damit reproduzieren die Lehrer*innen Geschlechterklischees und vermitteln Schüler*innen das Gefühl, dass sie bestimmte Kompetenzen angeblich aufgrund ihres Geschlechts besser oder schlechter könnten.
Im März 2021 haben die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, und die Senatorin Berlins für Bildung, Jugend und Familie, Sandra Scheeres, deshalb ganz besondere Post erhalten: Einen offenen Brief, initiiert von der Berliner Schüler*innengruppe „Keine Schule ohne Feminismus“ (KSOF), unterschrieben von 13 weiteren Schulsprecher*innen aus ganz Deutschland.
In diesem Brief tragen die Schüler*innen all die Punkte zusammen, die es aus ihrer Sicht für eine sexismusfreie Schule braucht und prangern an, was in der Schule so nicht weiterlaufen darf. Das große Ziel? Geschlechtergerechter Unterricht soll nicht länger von einzelnen Lehrpersonen abhängen, sondern in den Grundpfeilern des Schulsystems verankert sein.
Marthe, Sibel und Emma, alle 17 Jahre alt und Mitglieder der Schüler*innengruppe KSOF, erzählen, wieso sie den elfseitigen Brief geschrieben haben – und von der Antwort, die sie bekommen haben.
Sensibilisieren für Sexismus bereits in der Lehramtsausbildung
Als Marthe, Sibel und Emma anfangen, genauer hinzuschauen, finden sie überall an ihrer Schule sexistische Denkmuster, Verhaltensweisen und Prozesse. Denn Schulen sind eine gesellschaftliche Institution, alles, was in der Gesellschaft schiefläuft, spielt sich auch zwischen den Schulbänken und in den Pausen ab und findet sich in den Lehrplänen, Schulbüchern, im Verhalten der Schüler*innen untereinander wieder und in den Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen.
Was die drei und ihre Mitstreiter*innen fordern, sind verpflichtende Seminare während des Studiums, die zukünftige Lehrpersonen für Sexismus im Unterricht sensibilisieren sollen und die auch nach dem Studienabschluss regelmäßig wiederholt werden müssen. Außerdem mehr Vielfalt in der Themenauswahl aller Schulfächer. Im Deutsch- und Philosophieunterricht sollen mehr Werke von FLINTA-Personen besprochen werden und der Biologieunterricht solle weniger heteronormativ geprägt sein und mehr Sexualitäten und Körperbilder mitdenken.
„Es hat sich unglaublich ermächtigend angefühlt, gemeinsam mit anderen über sexistische Erfahrungen zu sprechen. Endlich konnte ich mich mal richtig auskotzen und habe bemerkt, dass ich mit meinen Problemen und Erfahrungen nicht allein bin.“
Emma von KSOF
Nicht ein konkreter Vorfall habe zu der Gründung von KSOF geführt, erzählen die drei, sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von Demütigungen im Schulalltag: Sexistische Sprüchen von Mitschüler*innen und auch Lehrpersonen, eurozentrische, männlich, heteronormativ geprägter Schulunterricht und sexistische Sticker im Jahrgangschat.
„Es hat sich unglaublich ermächtigend angefühlt, gemeinsam mit anderen über sexistische Erfahrungen zu sprechen. Endlich konnte ich mich mal richtig auskotzen und habe bemerkt, dass ich mit meinen Problemen und Erfahrungen nicht allein bin“, sagt Emma.
Die Vorfälle häuften sich, und für jede der drei gab es einen anderen Punkt, an dem sie entschieden, etwas gegen die aktuellen Zustände tun zu müssen. Klar ist allen, dass vieles, was im Schulalltag lange als normal abgetan wurde, nicht mehr länger so bleiben kann. „Ich habe über eine Freundin gehört, dass einige Mitschüler*innen eine Gruppe für den Austausch von sexistischen Erfahrungen an der Schule starten wollen. Relativ schnell haben sich mehrere zusammengefunden“, sagt Marthe.
Aktuell gibt es zehn aktive Mitglieder in der Organisationsgruppe. Zusätzlich gibt es eine Vernetzungsgruppe mit 50 Mitgliedern, darunter auch Schulsprecher*innen von anderen Schulen außerhalb Berlins. „Für die Zeit nach Corona hoffen wir, dass wir uns noch weiter in Deutschland verbinden können und Netzwerktreffen veranstalten können“, sagt Emma über die Zukunftspläne der Gruppe.
Kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem
Dass sexistische Strukturen nicht nur ein individuelles Problem einzelner Schulen sind, sondern ein strukturelles, zeigt das rege Interesse an der Arbeit von KSOF von Schüler*innen und Schulsprecher*innen in ganz Deutschland. Aber auch das Engagement von Schüler*innen, die sich bereits in der Vergangenheit gegen Sexismus aussprachen. Im September 2019 veröffentlichte die Landesschüler*innenvertretung Rheinland-Pfalz eine Pressemitteilung zum Thema Sexismus in der Schule. Wie auch KSOF prangern sie sexistische Kommentare von Lehrpersonen an.
Oft behandeln Lehrkräfte Schüler*innen auf Grundlage sexistischer und genderstereotyper Annahme gar nicht mit bösem Vorsatz, sondern ganz einfach unbewusst. Doch wenn gleiche Verhaltensweise je nach Geschlecht der Schüler*innen von Lehrpersonen völlig unterschiedlich bewertet werden, kommen Lehrer*innen schlicht ihrer Rolle als Vorbildfunktion nicht nach.
„Viele Leute sind in der Schule auf mich zugekommen und meinten, dass sie sich beim Betrachten der ,Wall of Shame‘ nicht mehr so allein gefühlt haben und sich stattdessen noch nie so ernst und wahrgenommen haben.“
Sibel von KSOF
Während also ein Großteil der Lehrer*innen von Marthe, Sibel und Emma in veralteten Rollenbildern festhängen, starten sie mit der KSOF ihre erste Aktion: Am 25. November 2020, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an FLINTA-Personen, hängen sie in der ganzen Schule selbstgestaltete Plakate auf, auf denen Begriffe wie Feminismus, Gender Pay Gap, Cat Calling oder Mansplaining erklärt werden. Der Höhepunkt des Aktionstages: An der „Wall of Shame“, eine Tafel im Schuleingang positioniert, hängen Zettel mit realen anonymisierten Erfahrungsberichten sexistischer Vorfälle von Mitschüler*innen, die von KSOF gesammelt wurden.
Die geschilderten Erlebnisse reichen von sexistischen Sprüchen durch Mitschüler, die von Lehrpersonen unkommentiert geblieben sind: „Boah, live Porno“, „Guck mal, wie die den Arsch rausstrecken“. Über Kommentare von Lehrpersonen zu vermeintlich zu kurzer Kleidung bis hin zu sexuell übergriffigem Verhalten durch Mitschüler.
Die Reaktionen in der Schule fallen unterschiedlich aus. „Viele Leute sind in der Schule auf mich zugekommen und meinten, dass sie sich beim Betrachten der Wall of Shame nicht mehr so allein, sondern so ernst- und wahrgenommen gefühlt haben wie noch nie“, sagt Sibel. „Viele waren verärgert und haben sich angegriffen gefühlt“, sagt Marthe „vielleicht, weil sie sich selbst in den Aussagen entdeckt haben. Das ist eine gute Reaktion. Wir wollten den Leuten zeigen, dass es sexistische Probleme in unserem Umfeld gibt, gegen die etwas getan werden muss.“
„Die Ergebnisse zeigen in eindrücklicher Weise, dass sexualisierte Gewalt – in all ihren Formen, von der sexualisierten Beschimpfung bis hin zu körperlichen Formen sexualisierter Gewalt – zur alltäglichen Erfahrungswelt der Mehrheit der Jugendlichen gehört.“
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Mit diesen Erfahrungen sind die Schüler*innen nicht allein. Die vom Kultusministerium Hessen in Auftrag gegebene SPEAK-Studie zeigte 2017, dass ein Viertel aller befragten Jugendlichen in den Jahrgangsstufen neun und zehn von allgemeinbildenden Schulen bereits sexualisierte Gewalt in nicht-körperlicher sowie in körperlicher Form erlebt haben. Von den über 2.000 befragten Schüler*innen gaben 55 Prozent der Schülerinnen an, Opfer sogenannter nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Hierzu zählen unter anderem sexuelle Kommentare, Beleidigungen oder Witze, sexuelle Belästigungen im Internet, das erzwungene Anschauen von pornografischen Inhalten auf dem Smartphone oder die Veröffentlichung von intimen Aufnahmen im Internet. Bei den Schülern liegt der Prozentsatz bei 40 Prozent.
Fast ein Drittel der befragten Schülerinnen hat bereits sexualisierte Gewalt mit direktem Körperkontakt erlebt – wie an Po oder Brust „angetatscht“ zu werden. Fünf Prozent der Schüler berichten über eine solche Erfahrung. Bei der Erhebung wurde lediglich von einem binären Geschlechtersystem ausgegangen, sodass Menschen außerhalb von diesem und ihre Erfahrungen gar nicht berücksichtigt werden konnten.
„Die Ergebnisse zeigen in eindrücklicher Weise, dass sexualisierte Gewalt – in all ihren Formen, von der sexualisierten Beschimpfung bis hin zu körperlichen Formen sexualisierter Gewalt – zur alltäglichen Erfahrungswelt der Mehrheit der Jugendlichen gehört“, sagen die Studienautoren Sabine Maschke und Ludwig Stecher.
Fehlende Prävention gegen sexualisierte Gewalt
Tatsache ist: Jugendliche erfahren sexualisierte Gewalt jeglicher Form in ihrer Lebensrealität, Täter*innen in dieser Altersstufe sind mehrheitlich Gleichaltrige, und Schulen sind ein Ort, an dem viele Gleichaltrige zusammenkommen. Die Institution Schule hat also in diesem Kontext eine besondere Rolle: Schulen sollten für Schüler*innen Platz schaffen, um über Geschehenes und Erfahrungen zu sprechen und um erlebte Gewalt aufzuarbeiten und ihnen die Chance zur Heilung geben – so die Idealvorstellung. Eine Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Von insgesamt 7.500 befragten Schulen konnten lediglich 13 Prozent ein umfassendes Schutzkonzept zur Prävention sexualisierter Gewalt im Schulkontext vorlegen.
Die Grundlagen für eine solche Entwicklung werden teilweise schon in der Ausbildung der zukünftigen Lehrkräfte gelegt. Denn dort werden Sexismus oder sexualisierter Gewalt kaum thematisiert. In einer Umfrage des Forschungsprojekts „Sexuelle Bildung für das Lehramt“ (SeBiLe) mit 2.771 Studierenden auf Lehramt, Personen im Referendariat und in der Schule tätigen Lehrkräften gaben 2020 lediglich 20 Prozent an, während des Studiums auch zu Inhalten sexueller Bildung ausgebildet worden zu sein. Mehr noch: 97 Prozent aller Befragten wünschen sich sogar mehr Aus- und Weiterbildungsangebote zur sexuellen Bildung. Doch die gibt es schlichtweg häufig nicht und dort, wo sie vorhanden sind, sind sie mitunter mangelhaft.
Falsche Darstellungen im Biobuch
Sexismus macht auch vor den Schulbüchern kein Halt. Erst seit Frühjahr 2020 bildet der Cornelsen Verlag in seinen Biologiebüchern die Klitoris in ihrer Gesamtheit ab. Zuvor wurde die Klitoris in den meisten Fällen lediglich als ein Punkt oder ein Tropfen „erbsengroß“ wie eine „Perle“ abgebildet. Diese Darstellung entbehrt jedoch jeglicher biologische Grundlage.
Klar wird: Die Institution Schule muss sich bewusst machen, dass sie kein per se sexismusfreier Raum ist, um ihrer besonderen Rolle in der Aufklärungs- und Präventionsarbeit nachzukommen. Was also antwortete die Bildungsministerin auf die Vorwürfe der Schüler*innen in ihrem Brief?
Enttäuscht von der Regierung
Mehr als das Gesamtfazit, dass im Großen und Ganzen alles ganz gut in den deutschen Schulen laufe, bekam KSOF von der Bildungsministerin nicht als Erwiderung. „Lehrkräfte werden mit Orientierungs- und Handlungsrahmen unterstützt, die eine Kompetenzentwicklung der Lernenden in den Blick nehmen“, heißt es. Der Link, der an dieser Stelle des Briefs als Verweis angegeben ist, führt lediglich zu einer Reihe von Artikeln, Broschüren und Podcasts sowie freiwilliger Bildungsangebote über sexuelle Bildung für Lehrpersonen in Berlin.
Demnach hängt es immer noch von Schule und Lehrperson ab, inwieweit diese Angebote wahrgenommen werden. Weiterbildungen, in denen Lehrpersonen eigene sexistische Denkweisen oder sexistische Strukturen der Schule reflektieren, gibt es keine.
Die Antwort bestätigt den bisherigen Eindruck: Von bildungspolitischer und schulischer Seite ist man sich der Wichtigkeit dieser Thematik in Teilen bewusst. Konkrete Maßnahmen, die ganze Strukturen in den Blick nehmen, fehlen. Ernüchternd. „Die haben sich nicht mal großartig damit beschäftigt, wer wir überhaupt sind. Nach so einer Antwort fühlt man sich als Person, die gerade über die eigene Zukunft lernt und nachdenkt, einfach richtig verarscht. Das war mehr als enttäuschend von unserer Regierung“, sagt Marthe.
Unterkriegen lassen sich die Schüler*innen davon jedoch keineswegs. Aktuell läuft eine Petition, die ebenfalls die Überarbeitung der Lehrpläne fordert. Ein Video zur deutschen Geschichte des Feminismus sowie die Teilnahme an Podiumsdiskussionen und Demos sind geplant. „Wir planen uns noch weiter in Deutschland zu vernetzen, um noch größer zu werden. Mit mehr Leuten könnte man dann auch deutschlandweite Demonstrationen oder andere Aktionen starten“, sagt Emma. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung wird also wieder von den Schüler*innen hören.