Inwiefern wirkt sich ADHS auf den Alltag aus? Warum wurde es erst im Erwachsenenalter diagnostiziert? Und was ist ADHS überhaupt? Wir haben mit betroffenen Frauen gesprochen – Milena Glimbovski ist eine davon.
23 Jahre ahnungslos
Sie ist die Gründerin des verpackungsfreien Supermarkts „Original Unverpackt“, hat mit „Ein guter Plan“ den perfekten Kalender zur Stressreduzierung erfunden und ist nebenbei seit kurzem auch noch Youtuberin. Bis vor drei Jahren sah das Leben von Milena Glimbovski aber noch ganz anders aus. In der Uni konnte sie sich nicht konzentrieren, verließ bei Langeweile den Raum und hielt es nie länger als ein halbes Jahr in einem ihrer Jobs aus. 23 Jahre hatte sie keine Ahnung, dass sie ADHS hat.
Anlässlich unserer ADHS-Themenwoche erzählt Milena im Interview, wie sie gelernt hat, mit der späten Diagnose umzugehen und ihr einige positive Aspekte abzugewinnen.
Wie ADHS aus medizinischer Sicht zu betrachten ist, hat uns Dr. Eike Ahlers von der psychiatrischen Abteilung des Campus Benjamin Franklin in Berlin erzählt.
Wie hast du festgestellt, dass du ADHS hast und wie alt warst du?
„Ich habe erst vor drei Jahren erfahren, dass ich ADHS habe, da war ich 23. Ich saß mit einem Freund zusammen in einem Café und wir unterhielten uns über sein ADHS. Da sagte er auf einmal, dass ich es auch hätte. Ich musste lachen, aber er war sich ganz sicher. Einige Tage später ging ich zu einem Psychiater und machte einen Test. Das Ergebnis war eindeutig. Im Nachhinein denke ich, dass mein Leben ganz anders verlaufen wäre, hätte es dieses Gespräch zwischen mir und diesem Freund nicht gegeben.“
Wie hast du dich gefühlt, als die Diagnose bestätigt wurde?
„Im ersten Moment war ich geschockt. Schließlich wollte ich keine Medikamente nehmen und hatte mich noch nicht intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Ich habe dann im Vertrauen ein paar Freunden von der Diagnose erzählt, die mich allerdings nur auslachten und behaupteten, das hätten sie mir gleich sagen können. Aber wieso hat mir 23 Jahre meines Lebens niemand gesagt, was mit mir los ist, wenn es für alle so eindeutig war?“
Gibt es Ereignisse, die im Nachhinein mehr Sinn für dich ergeben, seitdem du weißt, dass du ADHS hast?
„In der Schule habe ich einer Mitschülerin einmal aus purer Langeweile mit einem Locher in die Haare gelocht. Damals fand ich das lustig, aber erst heute verstehe ich, warum ich so etwas gemacht habe.
Das mit der Langeweile wurde auch später in meinen Jobs zum Problem. Ich habe es nie länger als ein halbes Jahr am selben Arbeitsplatz ausgehalten. Als ich dann herausgefunden habe, dass diese große innere Unruhe keine negative Charaktereigenschaft von mir ist, sondern das ADHS, und dass man ,Fehler‘ wie diese in den Griff bekommen kann, mit Medikamenten nämlich, war das eine unglaubliche Erleichterung für mich.“
Wie gehst du mit der Krankheit um? Was hilft dir an Therapie und Medikamenten am besten?
„Als ich von der Diagnose erfuhr, habe ich mich von meiner Ärztin beraten lassen und dann mit einer Ritalin-Dosis von 5 mg begonnen. Mit der Zeit haben wir die Dosis auf 10 mg erhöht. Das reicht bei mir für einen ganzen Tag, da ich recht klein bin. Wenn ich meine Medikamente nehme, dann fühlt sich das so ähnlich an wie für jemanden, der oder die kurzsichtig ist und eine Brille braucht.
In dem Moment, in dem man die Brille aufzieht, versteht man, wie andere Leute die Welt wahrnehmen. Ich nehme meine Medikamente nicht regelmäßig, aber immer wenn ich sie nehme, habe ich diese Ruhe in meinem Kopf und kann länger zuhören und unterbreche meine Freunde nicht ständig.“
Fühlst du dich gut aufgehoben, was die medizinische Betreuung angeht?
„Ich fühle mich gut bei meiner Ärztin und weiß ihre Betreuung sehr zu schätzen. Leider gibt es viele Ärztinnen und Ärzte dort draußen, die der Ansicht sind, dass ADHS keine ernstzunehmende Beeinträchtigung darstellt. Mit einer solchen Ärztin hatte es beispielsweise meine Schwester zu tun. Man versicherte ihr, dass eine Krankheit wie ADHS nicht wirklich existiere und sie sich keine Sorgen machen solle, dass sie es haben könnte. Jetzt traut sie sich nicht, das Gespräch mit einer zweiten Ärztin zu suchen.
Und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass ein weiteres Kind in der Familie betroffen ist, wenn ein anderes bereits diagnostiziert wurde, sehr hoch ist. Ich kenne meine Schwester, sie hat es mit Sicherheit auch.“
Gibt es demnach aus deiner Sicht noch gesellschaftlichen Aufklärungsbedarf oder fühlst du dich mit deiner Diagnose ernst genommen und akzeptiert?
„Es gibt definitiv noch viel Aufklärungsbedarf in unserer Gesellschaft. Leider gibt es auch unter meinen Freunden noch einige, die mir nicht glauben, dass ich ADHS habe. Viele interessiert zudem am meisten, ob ich Medikamente nehme.
Vor kurzem war ich auf einer Party, auf der viele Leute Drogen nahmen. Ich habe gleich gesagt, dass ich keine nehme, aber als ich im Laufe des Gesprächs erwähnte, dass ich Ritalin nehme, wurde ich ausgelacht. Sie sagten, das mache ja wohl keinen Unterschied.
Drogen zu nehmen, um sich beim Feiern zu verlieren, ist eine Sache. Aber Medikamente zu nehmen, um im Alltag zu funktionieren, um in dieser Gesellschaft zu funktionieren, ist etwas ganz anderes. Das miteinander zu vergleichen, finde ich hart.“
Inwiefern wirkt sich ADHS auf deinen Alltag aus? Welche Lebensbereiche sind besonders betroffen?
„Immer wenn ich auf ein neue Herausforderung oder ein interessantes Thema stoße, lasse ich mich zu 100 Prozent darauf ein. Was es auch sein mag. Für eine Weile gibt es dann nichts um mich herum, das spannender sein könnte. Doch irgendwann kommt der Moment, indem das Interesse mit einem Mal abnimmt und die gesamte Aufmerksamkeit schlappmacht.
Das ist leider nicht nur bei der Arbeit oder in der Uni der Fall, sondern auch in der Partnerschaft. Im Moment führe ich eine Beziehung, die bereits seit längerem sehr gut läuft, aber eine monogame Beziehung ist für Menschen mit ADHS eine große Herausforderung, eben weil wir uns sehr schnell langweilen.“
Welche positive Eigenschaften kannst du der Diagnose abgewinnen?
„Ich sage mir immer, das ADHS ist meine geheime Superkraft. Was ich besonders schätze und dem ADHS mitunter zu verdanken habe, ist beispielsweise meine Kreativität. In meinem Kopf fliegen so viele Gedanken umher, durch die ich auf viele gute Ideen komme. Das habe ich auch bei der Arbeit in unserem Laden gemerkt, wenn ich im Vergleich zu meinen Kolleginnen und Kollegen schnell auf effektivere Lösungen komme, indem ich die vielen Informationen, die ich über Tag aufnehme, zum richtigen Zeitpunkt miteinander verknüpfe.
Ich glaube, dass diese Eigenschaft auch bei den beiden Projekten, die ich umgesetzt habe, maßgeblich zu meinem Erfolg beigetragen hat. Einfach weil ich in vielen Situationen Lösungen gefunden habe, in denen andere bereits aufgeben hätten. Außerdem kann ich mich nie gedulden und etwas ganz zu Ende durchdenken. Das klingt im ersten Moment vielleicht negativ, hat sich aber als praktisch erwiesen.
Wenn ich eine gute Idee habe, muss ich diese sofort in die Tat umsetzen, weil ich nur so sehen kann, ob ein Projekt funktioniert. Wenn es nicht funktioniert, dann lerne ich daraus und wenn es funktioniert: super! Dann mache ich weiter. Viele Leute halten sich zu sehr damit auf, die Dinge zu perfektionieren und herauszufinden, ob und wie etwas klappen könnte. Sie denken so lange hin und her, bis sie am Ende vielleicht gar nicht mit der Umsetzung ihrer Idee anfangen.“
Welcher Tipp hat dir am meisten geholfen, den du gern anderen Frauen mit ADHS weitergeben würdest?
„Auch wenn man erst spät erfährt, dass man ADHS hat, sollte man die Diagnose positiv sehen und auf keinen Fall denken, dass man von nun an unter einer Krankheit leidet, gegen die es anzukämpfen gilt. Ich persönlich denke, dass die positiven Aspekte des ADHS überwiegen!
Mir hilft es außerdem, egal ob bei der Arbeit oder in meiner Beziehung, wenn ich mir jeden Tag fünf Minuten nehme, in denen ich mich hinsetze und mir überlege, in welche Richtung ich mich bewegen möchte, welche Ziele ich erreichen will und womit es mir gerade zu viel wird. Ansonsten verrenne ich mich.“
Themenwoche: Frauen mit ADHS
Diese Woche widmen wir dem Thema ADHS. Neben Dr. Ahlers, der uns die medizinische Sicht erklärt hat, erzählen bei uns diese Woche sieben Frauen von ihrem Alltag mit ADHS. Hier findet ihr alle weiteren Interviews:
Dr. Ahlers: „Bei hyperaktiven Mädchen denkt man nicht gleich an ADHS!“ Weiterlesen
Andie: „Nach der Diagnose war klar: Ich bin gar nicht so abgefucked, das ist das ADHS“. Weiterlesen
Katarina: „In manchen Situationen würde ich meinem Sohn liebend gerne Ritalin geben…“. Weiterlesen
Ninette: „Nein, ADHS lässt sich nicht ,wegerziehen‘“. Weiterlesen
@MeisemitHerz: „Ich will endlich im Paradies sein, um nicht mehr leiden zu müssen“. Weiterlesen
Anna*: „Die Bezeichnung ,Modekrankheit‘ ist totaler Bullshit!“. Weiterlesen