Was qualifiziert wirklich für den Job? Das fragen sich immer mehr Unternehmen und lockern die Voraussetzungen für Bewerber. Ernst & Young findet: Prädikatsabschlüsse sind nicht mehr zwingend notwendig.
Talent umfassend beurteilen
Großartig und lange überfällig: Die britische Dependance von
Ernst & Young hat bekannt gegeben, dass sie nicht mehr mehr von allen Bewerberinnen und Bewerbern Hochschulabschlüsse verlangt und für die Programme mit Abschlüssen die Eintrittshürden senken werde. Sie will in Zukunft und Talent und Qualifikationen
davon unabhängig beurteilen wird – unter anderem über Online-Tests, um das
Potenzial der Interessierten beurteilen zu können. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft begründet diesen Schritt damit, dass es keine Korrelation zwischen akademischen
Abschlüssen und späterem Erfolg im Berufsleben gebe. Das habe eine interne
Evaluation gezeigt. Für die Graduate- und Undergraduate-Programme ist ein besonders guter Notenschnitt nun nicht mehr erforderlich, außerdem gibt es ein Programm für Schulabgänger.
Maggie Stillwell, Managing Partner des Unternehmens im
Bereich Talente, sagte gegenüber der Huffington Post: „Akademische
Qualifikation wird natürlich weiterhin wichtig sein und eine bedeutende Rolle
dabei spielen, einen Kandidaten zu beurteilen, eine entsprechende akademische Qualifikation wird aber keine Hürde mehr sein, um bei uns einen Fuß in die Tür zu
bekommen.“
Unternehmen, die diesen Schritt im Recruitment gehen,
machen dabei zwei Sachen richtig: Zum einen sortieren sie nicht länger fähige
Leute aus, die aufgrund einer formalen Qualifikation die reine Hürde der
schriftlichen Bewerbung nie nehmen könnten. Zum anderen erkennen sie an, dass
sie über den Verzicht auf Hochschulabschlüsse mehr Vielfalt ins eigene
Unternehmen bekommen und bessere Chancen für Menschen schaffen, die schon in
der Schule aufgrund ihrer sozialen Herkunft benachteiligt waren. Denn was lange
wissenschaftlich bewiesen ist: Kinder aus Arbeiterfamilien oder Familien mit
Migrationsgeschichte schneiden bei den schulischen Leistungen im Schnitt
schlechter ab als Kinder aus Akademikerfamilien und besuchen deutlich seltener
eine Universität oder machen höhere Abschlüsse. Mit ihrer Intelligenz und ihren Talenten hat das jedoch nichts zu tun – sie können sie in dem System, das sie vorfinden, einfach schlechter unter Beweis stellen.
Was sagt der fehlende Abschluss aus?
Daneben gibt es weitere nachvollziehbare Gründe, warum
Studierende ihren Abschluss nicht machen: Die Art, wie an Hochschulen gelernt
wird, entspricht nicht ihrem eigenen Lernverhalten, sie müssen aus
gesundheitlichen oder familiären Gründen das Studium unter- oder abbrechen, sie
erhalten vor Studienabschluss ein sehr gutes Jobangebot und beenden ihr Studium
doch nicht. Gründe für einen Studienabbruch gibt es viele – sie haben selten
mit Faulheit oder mangelnder Intelligenz zu tun.
Das Talent einer Person lässt sich nicht mit einem
Hochschulabschluss erfassen. In zahllosen Berufen zählt viel mehr als eine
akademische Qualifikation und es ist höchste Zeit, dass mehr Arbeitgeber den
Hochschulabschluss als Voraussetzung für bestimmte Positionen abschaffen.
Inoffiziell tun das Unternehmen schon lange und stellen Bewerber ein, die
entsprechende Berufserfahrung mitbringen oder das Know-how für den Job auf
anderem Weg erworben haben. So liest man in Ausschreibungen immer häufiger:
„Ein Hochschlussabschluss oder eine vergleichbare Qualifikation“, was den Ermessensspielraum
für Personaler erweitert. Geht es um Positionen mit viel Erfahrung oder wird ein Job über Netzwerke vergeben, spielt die Zeit an der Hochschule oft keine Rolle mehr.
Doch für viele Berufe, Positionen oder Lohngruppen im
Öffentlichen Dienst ist der Hochschulabschluss eine Voraussetzung und verhindert aus rein formalen Gründen eine Beförderung, eine Bewerbung und eine
erfolgreiche und erfüllende Berufslaufbahn – und ein Talent im eigenen
Unternehmen.
Traut euch!
Menschen, die keinen Abschluss haben, kennen diesen Gedanken
nur zu gut: „Die Stelle würde perfekt auf mich passen, aber ich traue mich
nicht, mich zu bewerben – denn es wird ein Hochschulabschluss vorausgesetzt.“
In manchen Unternehmen haben solche Bewerbungen zwar durchaus eine Chance und
versuchen sollte man es immer – in vielen Firmen würde eine Bewerbung ohne
Hochschulzeugnis aber in der Tat schlicht aussortiert.
Die Klickstrecken „prominenter Studienabbrecher“ kennen
sicher viele von euch: Darunter sind tolle und lustige Frauen wie Barbara
Schöneberger und Anke Engelke oder die erfolgreiche Autorin Alexa Hennig von
Lange, aber auch Christoph Schlingensief und Günther Jauch. Und nicht zuletzt
Menschen, die Idole und beeindruckende Unternehmensgründer sind, wie Steve Jobs,
Mark Zuckerberg oder Bill Gates.
Mein Rat daher an diejenigen, die nicht (fertig) studiert
haben: Lasst euch von Stellenanzeigen nicht abschrecken – wenn ihr glaubt, die
berufliche Qualifikation bis auf den Abschluss zu haben, für die Sache brennt
und auf das Unternehmen Lust habt – bewerbt euch!
Mein Appell an die Unternehmen: Streicht diese
anachronistische Voraussetzung für die Menschen, die mit euch arbeiten möchten
(wenn ihr nicht gerade eine Fachärztin sucht). Ihr werdet dadurch noch mehr
Talente kennenlernen und tut außerdem etwas für die Chancengleichheit.
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