Lena ist Psychotherapeutin und schreibt über ihren Arbeitsalltag. Dieses Mal darüber, welche Schwierigkeiten man bekommen kann, wenn man einmal eine Psychotherapie gemacht hat.
Ein Missstand, der mich wütend macht
Es gibt ein großes Problem in unserem Gesundheitssystem. Genau genommen brennt es an vielen Stellen, aber eine Sache hat mich in dieser Woche ganz besonders gestört. Und dieses Mal hole ich weit aus. Schuld ist nicht nur das Gesundheitssystem, sondern gleich die ganze Gesellschaft. Wütend bin ich. Wütend und ein bisschen fassungslos auch. Aber fangen wir von vorne an …
Ich hatte einmal eine Patientin mit einer Essstörung. Das ist schon länger her, ein paar Jahre vielleicht. Damals haben wir richtig intensiv zusammengearbeitet und das hat sich gelohnt. Heute ist sie aus dem Gröbsten raus, sie hat viele Themen durchgearbeitet, sie war offen und ehrlich zu sich selbst. Am Ende ist alles gut ausgegangen und ich konnte die Patientin guten Gewissens weiterziehen lassen. Im Nachhinein habe ich nichts mehr von ihr gehört, was meistens ein gutes Zeichen ist. Bis sie sich vor ein paar Wochen meldete.
Eine Therapie mit Folgen
Erstmal habe ich mich wirklich gefreut, von ihr zu hören. Sie war eine meiner ersten Patientinnen und noch dazu war sie mir sehr sympathisch. Gut gehe es ihr, sagte sie. Sie habe ihr Leben weitestgehend im Griff, ein – mehr oder weniger – normales Verhältnis zu ihrem Körper und mit dem Essen klappe es auch meistens gut. Die Schule hat sie erfolgreich abgeschlossen und nun wolle sie eine Ausbildung bei der Polizei machen.
Das sei auch der Grund ihres Anrufs: Weil sie vor einigen Jahren eine Psychotherapie gemacht hatte (und das angeben musste), habe sie im Bewerbungsverfahren schlechte Karten. Ob ich ihr vielleicht etwas schreiben könne? „Moooment mal”, denke ich, „langsam. Man muss sich doch nicht rechtfertigen, weil man vor einigen Jahren Hilfe in Anspruch genommen hat. Oder doch?”
Man wird bestraft, weil man sich Hilfe gesucht hat
Versteht mich nicht falsch, ich bin natürlich keine Expertin für das Bewerbungsverfahren bei der Polizei. Ich schätze ihre Arbeit sehr, ich glaube es ist ein anstrengender und gefährlicher Beruf und tauschen möchte ich auch nicht. Es ist ohne Frage ein Job, bei dem man psychisch belastbar sein muss. Aber eine Psychotherapie muss in diesem Zusammenhang nicht grundsätzlich von Nachteil sein – ganz im Gegenteil. Psychotherapie ist die intensive Arbeit an den eigenen Grenzen. Es ist der ehrliche Umgang mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte und all dem Schmerzlichen, das auf diesem Weg so passiert ist. Das, was wir anderen lieber gut verschlossen in eine dunkle Ecke schieben.
Nach dem Anruf meiner ehemaligen Patientin habe ich am nächsten Tag ganz aufgebracht meinen Kollegen davon erzählt. Und sie haben mir erklärt, dass eine aktenkundige Psychotherapie noch weitere Nachteile mit sich bringen kann. Nicht wenige Menschen, die davon Kenntnis haben, schrecken daher vor dem Besuch eines Psychotherapeuten zurück. Andere sehen sich deswegen gezwungen, die Therapie aus eigener Tasche zu zahlen. Und das kann eine teuere Angelegenheit werden.
Andere Bereiche, in denen du Probleme bekommen kannst, wenn du eine Psychotherapie gemacht hast:
– bei der Verbeamtung
– bei Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung
– bei einem Wechsel in die private Krankenversicherung oder eine private Zusatzversicherung
– bei der Ausbildung bei der Polizei, als Pilot etc.
Hilfe in Anspruch nehmen ist doch eine gute Sache
Ich fasse zusammen: Wer sich helfen lässt, an sich und seiner Gesundheit arbeitet, der hat deswegen vielleicht einen Nachteil. Das ist ja wohl der Knaller, oder? Obendrein ist das ein großer Unfug und führt uns letztendlich zu meiner Lieblingsfrage: Heißt das im Umkehrschluss auch, psychisch krank ist der, der einen Arzt aufsucht? Ist es nicht viel schlimmer, wenn Menschen nicht an sich arbeiten? Und überspitzt gefragt, wann fängt denn dann eine psychische Krankheit, z.B. eine Essstörung, an? Dann, wenn du mit deinem Körper unzufrieden bist? Wenn du täglich Sport treibst oder eine strenge Diät verfolgst, nicht mehr genug isst? Oder erst dann, wenn du einen Therapeuten aufsuchst
Wer eine Psychotherapie macht, der ist vielen anderen Menschen schonmal zwei Schritte voraus: Er hat sich ein Problem eingestanden und er will daran etwas ändern. Meine Patientin hat den Ausbildungsplatz übrigens nicht bekommen. Die genauen Gründe kenne ich nicht. Sie war jedenfalls sehr traurig und ich irgendwie auch. Ich glaube, sie wäre eine gute Polizistin geworden. Für ihren geplatzten Traum gibt es leider keine Therapie.
Dieser Artikel ist bereits auf Lenas Blog: freud mich erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.
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