Die Welt braucht mehr Business-Romantiker. Tim Leberecht erklärt, wie man einer wird.
Mehr Romantik für die Wirtschaft
Tim Leberecht lebt in San Francisco. Er ist Autor des Buches „Business-Romantiker: Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben” und ist Chief Marketing Officer einer Designfirma. Für unseren Partner Capital schreibt er darüber, warum die Welt mehr Business-Romantiker braucht – und was einen Business-Romantiker überhaupt ausmacht:
Mehr Romantik würde unserer Wirtschaft gut tun, davon bin ich überzeugt. Die Ideen der Romantik – große Gefühle, Geheimnisse, tiefere Bedeutung – in die heutige Geschäftswelt zu übertragen, so lautet das Gebot der Stunde. In einer Zeit der „Entzauberung“ unserer Welt durch die Datafizierung und Quantifizierung aller Lebensbereiche brauchen wir mehr denn je „Business-Romantiker“ als Rebellen und Humanisten. Wie man ein Business-Romantiker wird, dafür habe ich – ganz unromantisch – neun Regeln aufgestellt.
1. Finde Großes im Kleinen
Egal, ob es um die Gestaltung des Arbeitsplatzes, die Atmosphäre von Konferenzen oder die Ansprache in E-Mails geht: Business-Romantiker suchen und finden im Arbeitsalltag jene unverfälschten Momente von Überraschung und Zuneigung, die einen später sagen lassen: „Das war großartig.“ Manchmal ist es schon eine kleine Geste oder eine persönliche oder sogar poetische Zeile in einer ansonsten effizienten, pragmatischen Business-E-Mail oder ein unerwartetes Mehr an Freundlichkeit – Hauptsache eine unmittelbare Freude wird spürbar und kann als langfristiger Vertrauensvorschuss Wirkung entfalten.
2. Sei ein Fremder
Von außen betrachtet, sieht man die Dinge oft besser und klarer als von innen. Das ist auch ein zentrales Credo der Business-Romantiker. Sie versuchen stets die Welt mit den Augen eines Fremden wahrzunehmen. Business-Romantiker verhalten sich absichtlich wie Amateure, wehren sich gegen Konformität und verstehen sich als Querköpfe. Sie gründen mit Gleichgesinnten kleine „U-Boot-Teams“ wie die „League of Intrapreneurs,“ eine Bewegung, die den Rebellen im eigenen Hause die Chance gibt, eine firmeninterne Gegenwelt zu entwerfen, oder den „Verbal Fight Club,“ einen neuen Veranstaltungsreihe aus New York, die Manager dazu einlädt, kontroverse Business-Themen in einer Art Streitrede mit Fremden zu debattieren.
3. Gib mehr als du nimmst
Jeder freut sich über Geschenke. Oftmals ist es ebenso schön, zu schenken, wie beschenkt zu werden. Geschenke schaffen und fördern Beziehungen. Deshalb spielen sie auch in der Wirtschaft eine große Rolle. Anderen eine Freude zu bereiten und zu helfen, stärkt nicht nur unsere Bindung an die Welt, sondern auch an unser Unternehmen. Studien belegen, dass wir uns produktiver und zufriedener fühlen, wenn wir unsere Arbeit für einen guten Zweck unterbrechen, um zum Beispiel an eine gemeinnützige Organisation zu spenden oder als Freiwilliger bei einem Online-Projekt mitzumachen – und sei es nur für 30 Minuten.
Aber es sind nicht nur diese „guten Taten“, die zählen, sondern auch kleine Aufmerksamkeiten, die eine romantische Betriebskultur prägen. In einer von Transaktionen dominierten Welt wird „Großzügigkeit zur neuen Disruption“, wie es die Autorin Jessica Lawrence formuliert hat.
4. Leide (ein bisschen)
Business-Romantiker wissen: Echte Leidenschaft entwickelt der Mensch besonders dann, wenn er ein bisschen leiden muss. Wie ließe sich sonst der Erfolg von Ikea erklären, wo beim Zusammenbauen der Möbel Verzweiflung vorprogrammiert ist? Oder von Vielfliegerprogrammen, bei denen Leistungsversprechen erst irgendwann in der Zukunft eingelöst werden können? Business-Romantiker verlangen von Kunden und Kollegen, sich ein bisschen anzustrengen. Sie lassen sie warten, frustrieren sie absichtlich, damit sie wertschätzen, was sie nicht bekommen können. Und verschaffen ihnen die ultimative romantische Belohnung: permanente Unerfülltheit.
5. Hüte das Geheimnis
Von Marken und den Repräsentanten wird heute erwartet, dass sie auf den sozialen Medienkanälen dauerpräsent sind. Business-Romantiker aber verhalten sich lieber wie Greta Garbo. Sie ziehen sich zurück, immer begehrt, stets unerreichbar. In einer Zeit, in der Transparenz und Offenheit zum Allheilmittel erklärt werden, gewinnen Vieldeutigkeit und Geheimnis wieder an Wert. Marken und Unternehmenskulturen verlieren ihre Kraft, wenn sie zu durchsichtig, zu beständig werden. Business-Romantiker schaffen Platz für Ambiguität und weigern sich, bestimmte Dinge zu erklären oder zu enthüllen. Wissen ist Macht, aber Ahnung (und sogar Zweifel) halten unsere Fantasie wach und sind probate Mittel gegen Langeweile und Routine.
6. Trenne dich
Es ist ein Markenzeichen der Romantik, dass sie nicht ewig währt. Allerdings fällt es uns als Chefs, Angestellte oder Kunden schwer, Dinge gut zu beenden. Wir haben wenig Übung in professionellen Trennungen und auch die Business-Schulen bereiten uns auf solche Situationen nicht richtig vor. Das ist ein Fehler. Denn Trennungen eröffnen Perspektiven. Ob wir Kundenherzen oder Mitarbeiter verlieren oder Projekte beenden: Abschiede eröffnen Raum für Reflexion und das Versprechen der Erneuerung. Business-Romantiker wissen das. Sie zelebrieren Trennungen und lassen in ihren Kundenbeziehungen und am Arbeitsplatz bewusst Brüche zu. „Never change a winning team?” Von wegen! „Always change a winning team!” Business-Romantiker schätzen die Anmut der Endnote, schreiben persönliche, emotionale Abschiedsbriefe für ihre Kollegen und hören auf, wenn es am Schönsten ist.
7. Überquere den Ozean
Romantisch zu sein ist schwierig, romantisch zu bleiben ist noch schwieriger. Als Romantiker müssen wir unsere „romantische Selbstverpflichtung“ auch in den mittleren Arbeitsjahren einhalten, wenn die Routine einkehrt und die Verlockungen, anderswo einen Neuanfang zu wagen, stärker werden. Das bedeutet, Fear-Of-Missing-Out (FOMO)-Gefühle bewusst in Kauf zu nehmen und dem eigenen Unternehmen treu zu bleiben. Wir können uns als einsame Segler sehen, die einen Ozean überqueren, oder als Mannschaftskameraden, die gemeinsam etwas zu verlieren haben. Romantiker wissen, dass man sich die Reichtümer des Geschäftslebens nur dann erschließt, wenn man als Team eine Geschichte hat, die größer ist als jeder Einzelne.
8. Nimm den langen Weg nach Hause
Business-Romantiker sind Nostalgiker. Sie sehnen sich nach einer Zeit zurück, in der die Zukunft weniger vorhersehbar und die Welt weniger hektisch schien. Sie wissen um die Kraft der Sehnsucht. Sie schaffen Firmen, Produkte und Dienstleistungen, die das Verlangen nach einer zutiefst menschlichen Erfahrung stillen – nach etwas, das wir in unserem modernen Leben vermissen. Und damit liegen sie voll im Trend: Von der Maker-Bewegung zu Joy Lohmann bis zur Renaissance von privaten Dinnern in kleiner Runde – echte, sprich authentische Business-Modelle und Interaktionen sind „in“.
9. Stehe alleine, am Rande, ganz still
In unserer westlichen Geschäftskultur geben wir generell dem Sich-Reinhängen, der Entschlossenheit und Geschwindigkeit den Vorzug vor der Nachdenklichkeit, dem Abwarten, dem Gespräch. Business-Romantiker brauchen Zeit und nehmen sie sich. Zeit für eine Pause. Zeit für Stille. Business-Romantiker führen die Geschäfte in ihrem eigenen Tempo. Sie handeln auch einfach einmal nicht. Business-Romantiker bleiben stehen. Die anderen kommen näher.
Wenn wir diese neun Regeln beherzigen, machen wir unsere Unternehmen unberechenbarer, charismatischer und menschlicher. Sie helfen uns, jenseits von grandiosen Mission-Statements und kleinen Annehmlichkeiten eine aufregende und anregende Kultur zu entwickeln, die Kollegen und Kunden langfristig an uns bindet.
HINWEIS: Die Veröffentlichung des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Capital – Das Online-Portal des Wirtschaftsmagazins Capital mit Reportagen, Analysen, Kommentaren aus der Welt der Wirtschaft und der persönlichen Finanzen.
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