Warum all unsere Gefühle wichtig und richtig sind. Und warum wir die Gefühle anderer nicht „wegmachen“ sollten, nur weil sie uns unangenehm sind. Warum es manchmal auch ums Aushalten geht.
Den Gefühlen freien Lauf lassen befreit
Ich war Anfang 20, vor kurzem war meine Mutter gestorben. Mein Vater und ich
stritten heftig, eigentlich in diesem Ausmaß das erste Mal im Leben. Ich konnte endlich ungefiltert, „unvernünftig“, ohne auf die Gefühle
und vor allem die sehr angeschlagene Gesundheit meiner Mutter Rücksicht nehmen
zu müssen, das zeigen, was in mir tobte. Ich weinte laut, ich schrie
auch, ich war geradezu außer mir. Was unendlich weh tat, aber auch
befreiend war – sein musste in diesem Moment. Mein Vater
verstummte und versteinerte zusehens, irgendwann ging er wortlos. Zwei
Wochen hörte ich nichts von ihm. Dann kam ein Brief. Und ein Satz daraus
hat mich jahrzehntelang verfolgt, eigentlich bis heute:
„Dieses entgleiste Gesicht von Dir, diese Fratze hat mich tagelang in meinen Albträumen begleitet.“
Noch gar nicht so lange her ist die nächste Episode: Seit langem beschäftigt mich die Einsamkeit. Meine eigene
Einsamkeit, aber auch die Einsamkeit als Tabuthema von so vielen
Klienten, die erleichtert sind, bei mir darüber reden zu können. Meine
eigene Einsamkeit wuchs in den letzten Jahren. In einem Gespräch mit
einer mir nicht allzu nahen, aber sehr lieben Bekannten – wir haben lang
nicht miteinander gesprochen und sie fragte, wie es mir geht – erwähnte
ich eher nebenbei, dass meine Einsamkeit wieder zugenommen hätte. Ich
hatte den Satz noch kaum zu Ende gebracht, da sagte sie schon:
„Also, dagegen müssen Sie etwas tun, sonst werden Sie depressiv. Gehen Sie raus, Sie müssen unter Leute, ja?“
Eine harmlosere, doch nicht minder bezeichnende Situation: Ich bin
über irgendetwas oder irgendjemanden sehr wütend und erzähle jemand
anderem davon. Sehr schnell kommt die Reaktion (auch von mir, ich nehm
mich da gar nicht aus!):
„Ach komm, reg dich nicht auf!“
Erkennst du, was diese drei Geschichten gemeinsam haben?
Da hält jemand meine Gefühle nicht aus. Die in diesem Moment aber da
sind. Ob das nun schöne, hässliche, schwierige, leichte oder sonstwie
geartete Gefühle sind. Sie sind da. Und wenn sie da sind, sind sie zu
Recht da. Aus irgendeinem Grund. Den wir vielleicht im Moment (noch)
nicht sehen oder verstehen.
Warum teilen wir Gefühle so oft in zwei Kategorien ein und bewerten sie
dadurch? Die guten, schönen Gefühle sollen möglichst lang bleiben:
Freude, Begeisterung, Verliebtsein, Rührung, Liebe.
Die hässlichen Gefühle hingegen – Wut, Einsamkeit, verzweifelt sein –
müssen schnell weg! Die tun weh, die sind nicht gut, die sind hässlich,
geradezu eine Zumutung, bäh! Also husch husch, raus aus dem Haus! Die
Fratze muss schnell wieder freundlich und sanft gucken, die Einsamkeit
soll in der Menschenmasse verschwinden und die Wut soll sich bitte
schnell wieder beruhigen.
Gefühle erster und zweiter Klasse?
Good guys and bad guys.
Eigentlich schrecklich ungerecht, wie ich finde. Gefühle, die da sind,
sind da. Punkt. Und wollen erstmal gesehen, vielleicht auch gehört
werden. Weil einfach so ohne Sinn und Zweck wären sie nicht gekommen.
Dies will gewertschätzt sein. Erstmal. Auch wenn wir natürlich viel
dafür tun können und sollen, dass die schmerzhaften Gefühle sich auch
wieder verwandeln können. Aber erstmal sind sie da.
Warum bemühen wir uns so schnell und vehement, die hässlichen Gefühle
von anderen zu verscheuchen? Weil wir glauben, sie tun dem, der die
Gefühle gerade hat, nicht gut? Haben wir ihn das vielleicht einfach mal
gefragt?
Ist es nicht vielmehr so, dass wir selbst diese Gefühle des
anderen nicht ertragen? Weil sie so schwarz, hässlich, bedrohlich sind?
Weil wir sie so sehr fürchten oder sie gar selbst so gut kennen? Und uns
deshalb um Himmels willen nicht damit konfrontieren wollen? Husch, weg
mit euch, Gespenster!
Wenn aber im Leben beides seinen Platz braucht? Weil nämlich das Leben
nicht immer leicht ist und das auch nicht zu sein hat, wie ich hier schon einmal schrieb?
Von meinem Vater hätte ich mir gewünscht, dass er nachfragt, nachdem er
sich wieder gefasst hatte. Er hätte ruhig sagen können, wie sehr ihn diese
Seite seiner Tochter erschreckt hat. Aber er hätte bei mir bleiben
müssen, mit all dem Schrecken und Erstarren! Er hätte es aushalten
müssen, dass ich so außer mir war, verdammt!
Die liebe Bekannte hätte mir einfach erstmal nur zuhören können. Sie
hätte nicht gleich einen Ratschlag geben müssen. Schon gar nicht
ungefragt. Weil nämlich der Rat, bei Einsamkeit einfach unter Leute zu
gehen, nicht hilft. Weil der einsame Mensch sich das selbst schon
hundert Mal gesagt hat. Weil sich der einsame Mensch nicht ernst
genommen fühlt dabei.
Bitte lasst uns unsere Gefühle! Alle!
Nicht nur die fröhlichen, leichten, hübschen. Gebt allen Gefühlen den
Raum, der ihnen gebührt. Hört zu. Bleibt da. Scheucht sie nicht weg.
Ertragt sie! Und fragt dann, ob ihr was tun könnt. Und respektiert
unsere Antwort, egal, ob sie euch angenehm ist oder nicht. Bitte! Danke.
♥
Diesen Text hat Bettina zuerst auf ihrem Blog veröffentlicht. Wir freuen uns, dass er auch hier erscheint.
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