Foto: Judith Schröer

Psychische Erkrankung – Von Depression, Digitalisierung und dem eigenen Weg

Bis vor wenigen Jahren führte ich ein ziemlich glückliches Leben. Meine Beziehung hatte ihre üblichen Höhen und Tiefen. Das Verhältnis zu meiner damals pubertierenden Tochter war abseits der normalen Streitereien gut, und in meinem Job als Projektmanagerin blühte ich auf.

 

Damit sollte es am 28. April 2012 schlagartig vorbei sein. An jenem Samstag vor über fünf Jahren kam mein Freund zu mir nach Köln, begrüßte mich mit einem Kuss und eröffnete mir wie aus heiterem Himmel, dass er sich von mir trennen wolle. Für mich brach eine Welt zusammen – und er zog übergangslos zu seiner neuen Partnerin, einer netten Arbeitskollegin.

Schnell merkte ich, dass der Kummer dieser Trennung einen tieferen Schmerz in mir triggerte, der nichts mit meinem Ex-Freund zu tun hatte.

Ich hatte eine Ahnung, woher ich diese Probleme kamen. Im November 2005 kamen bereits erste Erinnerungen an meine frühe Kindheit hoch, die ich zunächst gar nicht einordnen konnte – zu lange hatte ich mich unbewusst der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen verweigert. Ich war alleinerziehende Mutter einer siebenjährigen Tochter und hatte mich um dringendere Angelegenheiten zu kümmern. So wischte ich diese ersten Erinnerungen weg und tat sie als Hirngespinste ab. Glauben konnte und wollte ich meinen Erinnerungen nicht.

Das rächte sich nun böse.

Meine täglichen Begleiter: Appetitlosigkeit, Kreislaufprobleme und Intrusionen

Intrusion nennt der Fachmann die falsche Wahrnehmung von äußeren Reizen des Körpers. Ich roch beispielsweise das Aftershave meines Vaters, obwohl ich allein in meinem Wohnzimmer war. An anderer Stelle hämmerte eine Stimme in meinem Kopf: „Mein Kind ist tot, mein Kind ist tot!“ Doch gleichzeitig unterhielt ich mich mit ihr am Telefon. Helle Flüssigkeiten konnte ich nicht mehr essen oder trinken, denn ihr Geschmack wandelte sich in die von Körperflüssigkeiten. Da ich zudem kaum noch essen konnte nahm ich innerhalb weniger Wochen rund 25 kg ab.

Dazwischen mischten sich aber auch auch kostbare Momente, in denen ich mich das erste Mal in meinem Leben weiblich fühlte. Überhaupt – ich fühlte! Sanfte kleine Bewegungen über meine Haut konnte ich wahrnehmen. Ich, die als grobmotorisch und unsanft galt. Momente, in denen ich mich frei fühlte, in denen ich merkte, dass diese Trennung die beste meines Lebens war. Frei von dieser Lebensangst meines Ex-Freundes, durchatmen ohne diesen Ring um meine Brust.

Diese Gegensätze waren es, die mich zu der irrigen Annahme führten, dass meine Probleme sich bald von alleine auflösen würden. Es wäre einfach der ganz normale Trennungsschmerz. Auch dass ich morgens unter der Dusche in Tränen ausbrach oder auf dem Weg zur Arbeit in der Bahn ohne ersichtlichen Grund weinte, schrieb ich dem zu. Meine Arbeitskolleginnen hatten Verständnis für mich, wenn ich auf Grund meines Zustands die Arbeit unterbrechen musste. Schließlich wussten sie von der Trennung.

Meine Tochter und der Fall ins Bodenlose

Durch die Trennung hatte meine Tochter ihre wichtigste Vertrauensperson verloren, und das zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie schwänzte die Schule, brachte Alkohol mit dorthin und konnte dem Unterricht nicht mehr folgen. Die Lehrer informierten mich und rieten mir, in der Kinderpsychiatrie vorstellig zu werden.

Der Kinderpsychologe hörte sich unsere Situation an und teilte mir schonungslos mit: „Frau Albrecht, Sie gehören in Therapie! Schnellstmöglich und zwar stationär.“ Meinen Hinweis, dass ich eine alleinerziehende Mutter bin, ohne Familienangehörige, die einen engeren Bezug zu uns hätten, wischte er fort mit einem knappen: „Dann müssen Sie Ihr Kind fremd unterbringen.“

Meine Therapeutin, bei der ich seit Anfang 2011 in Therapie war, kam zu dem gleichen Schluss. In einem kurzen Telefonat mit meiner Mutter sagte diese klipp und klar, dass sie und ihr Mann meine Tochter nicht aufnehmen könnten. So ging ich zum Jugendamt, schilderte meine Situation und beantragte für meine Tochter die Heimunterbringung. Am 17.07.2012 gab ich meine Tochter ab. Mein völliges Versagen als Mutter.

Ich verlor alles, was mir Halt gegeben hatte.

Der stationäre Aufenthalt und warum vieles plötzlich klarer wurde

Mitte September konnte ich eine neunwöchige Traumatherapie in Bad Mergentheim antreten. Ich traf das erste Mal in meinem Leben auf Frauen, die mich verstanden – weil es ihnen ähnlich ging. Sie erklärten mir, dass ich Depressionen anders als Masern mehr als einmal im Leben haben könnte.

Dass stationäre Aufenthalte durchaus wiederholt werden können und wo der Unterschied zwischen einer Traumaklinik und einer Psychiatrie liegt.

Die mir halfen, ein sogenanntes Notfall-Täschchen zu erstellen. Mir den Zugang zu meinem inneren Kind ermöglichten, sich öffneten und mit mir ihre Erfahrungen teilten.

Dass Panikattacken, Schockstarren, Intrusionen und dissoziative Zustände mir zwar den Alltag erschweren, doch dass es einen Weg gibt, damit umzugehen. Und zwar meinen ganz eigenen, den ich mit Begleitung herausfinden kann.

Bis heute bin ich ihnen zutiefst dankbar.

Am 21.11.2012 wurde ich entlassen. Im Abschlussbericht der Klinik sah ich zum ersten Mal in meinem Leben meine Diagnosen:

  • rezidivierende Depressionen
  • Borderline und
  • komplexe Posttraumatische Belastungsstörung.

Psychische Erkankungen?!

Ich?!

Mich so zu sehen, fiel mir schwer.

Meine Rettung und der Beginn eines neues Arbeitslebens

Mit meinem damaligen Arbeitgeber, der mich zwischenzeitlich am liebsten kündigen wollte, vereinbarte ich, dass ich ab 02.01.2013 wieder arbeiten würde. Arbeiten mochte ich schon immer. Das konnte ich, dabei fühlte ich mich sicher, und so wollte ich auch gleich wieder durchstarten. Nebenher wollte ich meinen Master an einer Fernuni machen. Zum Glück kam aus rechtlichen Gründen dieses Projekt nicht zustande.

Bereits im Juli 2013 merkte ich, dass ich mich schon wieder überforderte. Viel schlimmer noch – ich fühlte mich an meinem Arbeitsplatz nicht mehr sicher und empfand mich so existenziell bedroht wie damals von meinem Vater. Schweißausbrüche, Panikattacken und Schockstarren kamen erneut. Schweren Herzens entschloss ich mich in Absprache mit meinen Therapeuten, dass ich ab Januar 2014 eine längere Auszeit nehme. Es ging nicht anders, wollte ich meine seelische Gesundheit nicht weiter gefährden.

Mit dieser Entscheidung beginnt die eigentliche Reise zurück zu mir.


Missbrauch kann nur stattfinden kann, wenn Opfer schweigen.

Ich möchte das Schweigen brechen, weil ich erlebt habe, dass es viele Menschen gibt, denen es ähnlich geht wie mir und die aus verschiedensten Gründen schweigen. Doch das ändert nicht die Akzeptanz psychisch Erkrankter in der Gesellschaft.

Ich möchte mein Schweigen brechen und meinen Teil dazu betragen, die Stigmatisierung psychisch Erkrankter zu verringern und Lösungen aufzuzeigen. Auch und gerade in und für die Berufswelt.

Wichtig ist mir heute vor allem die Botschaft: Du kannst deinen Weg finden. In jedem psychisch Erkrankten steckt viel gesundes Potential, das zu seinem Recht kommen möchte und „nur“ geweckt werden will. Leider findet man das selten alleine. Es bedarf guter Begleitung, die hilft, den Fokus zu ändern.

Wohin mein Weg mich in der Zukunft führen wird, weiß ich nicht. Schön wäre, mich weiter entfalten zu können. Einen wichtigen Schritt habe ich da bereits getan, blicke ich heute schließlich auf mein eigenes berufliches Happy End. Alleine dies ist für mich ein großes Stück Lebensqualität. In meiner heutigen Arbeit kann ich meine Online-Affinität ausleben und mit meiner Berufserfahrung ergänzen. Der Kreis hat sich an dieser Stelle für mich geschlossen.



#PsychischeErkrankung #SchweigenBrechen

#DigitalisierungAlsChance

Über uns

Julia Albrecht heißt in Wirklichkeit anders. In diesen Artikeln berichten wir regelmäßig von ihrem Weg. Sie möchte nicht nur anderen Betroffenen helfen, wieder zu sich selbst zu finden und psychischen Erkrankungen nicht die gesamte Kontrolle über das Leben zu geben. Ausgangspunkt dabei ist die Frage, wie Digitalisierung einen Beitrag vor allem bei der (Re)Integration in den Arbeitsmarkt leisten kann.

Dieser Artikel soll Mut machen und aufklären. Er steht am Beginn eines Netzwerks, aus dem heraus Angehörige, Kollegen und Vorgesetzte gemeinsam mit den Betroffenen Antworten auf Fragen der Integration erhalten. Damit psychisch Erkrankte ihr kreatives Potential und das Recht auf ein erfülltes Leben verwirklichen können.

Das Projekt soll darüber hinaus Diskussionen und Veränderungen im Gesundheits- sowie Arbeitssystem anstoßen. Julia haben sie im Stich gelassen.

In den kommenden Beiträgen berichten wir über Julias Irrweg durch die Instanzen des Gesundheits- und Arbeitssystems, die familiäre Situation und wie die Digitalisierung Menschen zurück ins (Berufs)leben führen kann.

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