An meinem zehnten Geburtstag stehe ich auf dem Balkon meiner Eltern, schaue in den Garten und sage: Von jetzt ab bin ich immer zweistellig, nie mehr einstellig. Aus der 9 wurde die 10. Und ich war darüber stolz. Danach konnte es mit dem Älterwerden nicht schnell genug gehen. Als wolle man bei einer Treppe immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmen. Älter werden, so dachte ich, bedeutet freier werden. Mehr dürfen. Einen weiteren Radius im Leben bekommen. Und das war spannend und aufregend.
Heute frage ich mich: Wann hat dieser Hunger nach dem Mehr an Lebensjahren bloß aufgehört? Wann ist er umgeschlagen in das große Grauen vor dem Gespenst Älterwerden?
Irgendwann gab es diese „Noch“-Komplimente. „Für dein Alter bist du aber noch…“ oder „Also ich wäre froh, wenn ich in deinem Alter noch so…“ Das war auch furchtbar nett gemeint, aber das „noch“ fällt einem dann schon irgendwann auf. Warum „noch gut“, wenn doch ein einfaches „gut“ auch gereicht hätte?
Man merkt ja irgendwann recht klar: Das Aussehen lässt nach. Man gehört nicht mehr zu denen, nach denen sich umgeschaut wird. Das sind deutlich Jüngere. Man flashed jemanden mit einem Gespräch, aber nicht mehr mit dem Betreten eines Raumes. Und das ist ok so, denn man hat längst gemerkt: Auf das Aussehen allein sollte man sich nicht verlassen im Leben, denn das ist vergänglich.
Ich denke in solchen Momenten an meine Mutter, wie sie mit 70 oder 80 aussah. Klar, da ist es ganz logisch, dass zwischen mir und ihr irgendwann ein „Dazwischen“ sein muss. Dass ich mich langsam dahin entwickle, mit mehr Fältchen, Dellen, weichender Spannkraft und mehr „hager“ im Gesicht. Man sieht ja nicht von jetzt auf gleich alt aus, sondern es ist ein Weg dahin. Und das ist hilfreich. Aber dieser Text soll sich weiß Gott nicht ums Aussehen drehen, denn das ist nur das, was ständig thematisiert wird, wenn man sein Alter sagt.
Fakt ist: Die erste Lebenshälfte ist rein rechnerisch eingetütet, wenn man davon ausgeht, dass eine heute 40-jährige Frau eine Lebenserwartung von circa 80 Jahren hat. Und mit 50 wird das kaum besser. Und das fühlt sich definitiv anders an als mit Anfang 20, als man noch dachte: Das Leben ist unendlich und die Welt steht mir offen. Das ist ein Punkt, an dem sich leider nicht rütteln lässt.
„Sich mit Cremes ein paar Jahre jünger zu zaubern, mag eine Zeit lang nice sein. Aber es ist letztlich vor allem eins: Herzlich vertane Lebenszeit, in der wir weitaus schönere Dinge tun können.“
Aber, und auch das ist ein Fakt: Wir leben ja. Wir ERleben ja total viel. Und das ist erfüllend und spannend und wichtig. Niemand möchte wie bei „Täglich grüßt das Murmeltier“ ständig wieder auf Reset gesetzt werden, denn man sammelt ja Begegnungen. Momente. Erfahrungen. Wissen womöglich.
Wenn ich ältere Menschen sehe, versuche ich oft das Leben hinter dem faltigen Gesicht zu sehen. All das, was diese Person erlebt hat und erfahren durfte, worüber sie gelacht und nachgedacht hat. Welche Bücher sie gelesen, welche Weltereignisse sie umgetrieben und welche Menschen sie geliebt hat. Wie reich viele ältere Menschen aussehen, wenn man genau hinschaut. Reich beschenkt vom Leben. Und halt nicht vom Jungbrunnen.
Wer möchte schon wie Dorian Gray sterben. Wunderschön, aber leer?
Letztlich kam die philippinische Tätowiererin Apo Whang-od auf das Cover der Vogue. Sie ist 106 Jahre alt und wer diese Frau sieht, der sieht Leben. Erlebtes. So viel, was diese Frau ausmacht.
Wir sollten mehr Menschen, die gelebt haben, auf Cover heben und uns an der Schönheit des Alters erfreuen. Im Mittelalter starb man womöglich faltenlos mit 30 – wir gehen heute weitere Wege, auch optisch gesehen in dem Fall. Ein Geschenk also, das man nicht ständig mitleidig kommentieren sollte.
Beim nächsten Geburtstag sollten wir deshalb im Idealfall auf dem Balkon stehen und uns von Herzen freuen, darüber, was wir erleben dürfen, und darüber, wer wir sind – mit 30, 40, 50 oder 60 Jahren. Sich mit Cremes, Gesichtsmassagen und Cellulite-Rollern ein paar Jahre jünger zu zaubern, mag eine Zeit lang nice sein. Aber es ist letztlich vor allem eins: Herzlich vertane Lebenszeit, in der wir weitaus schönere Dinge tun können.
Dieser Text erschien erstmals in unserem Voices Newsletter, für den ihr euch hier anmelden könnt.
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