Foto: Gene Glover

Muss ich mich entscheiden: Familie oder Freiheit?

Beides! Buchautorin, Mutter von fünf Kindern und Ehefrau:
Alexa Hennig von Lange schreibt, warum erst ihre Patchworkfamilie sie frei und unabhängig macht

 

„Heiratet bloß nicht!“

Als kleine Mädchen bekamen meine Schwester und ich von unserer Mutter den verstörenden Tipp: „Heiratet bloß nicht, Kinder!“ Sie war es leid, meinem arbeitswütigen Vater beim Kommen und Gehen zuzusehen, obwohl sie selbst gerne mehr gearbeitet hätte. Damals klang es für uns so, als sei es ein Riesenfehler gewesen, unseren Papa zu heiraten. Aber eigentlich wollte unsere Mutter nur das Beste für uns. Nämlich: „Wenn ihr als Frauen unabhängig und frei leben wollt, dann geht das nur ohne Mann.“ Denn Männer, wie meine feministisch veranlagte Mutter meinte, wären dazu fähig, einem das gesamte Leben zu ruinieren. Und zwar, indem sie festlegten, wo es „lang ginge“.

Meine Schwester und ich lernten von ihr, dass es überhaupt keinen Sinn mache, als Frau ­irgendwelche Wünsche bezüglich der gemeinsamen Lebensgestaltung zu äußern, da der Mann diese sowieso als uninteressant empfände und sich nicht weiter da­rum scherte; sich aber im Gegenzug rücksichtslos irgendwelche Sonderwürste herausnähme, ständig auf Kosten der Frau seinen Lebenstraum verfolge und sich keinen Deut um die Gefühlslage, die emotionalen Notstände und Überlastungen der Frau interessiere. Um also gar nicht erst mit all diesen negativen, schmerzerzeugenden Verhaltensweisen der Männer in Berührung zu kommen, war der Rat meiner Mutter: „Verdient euer eigenes Geld und schlagt euch ungebunden durchs Leben. Lieber ohne Liebe, dafür aber in Freiheit.“

Vielleicht war dieser Blick auf die Männer ein persönlicher Spleen meiner Mutter, weil sie nie gelernt hatte, wie man als Frau dem Mann offen gegenübertrat und seine Meinung sagte. Oder, weil sie noch zu einer Frauengeneration zählte, die für sich generell keine Möglichkeit sah, das zu tun. Oder aber, weil mein Vater noch der Männergeneration entsprang, die zu echten Patriarchen herangezogen worden war. In jedem Fall war meine Mutter eine begeisterte Anhängerin der berühmten Feministin Simone de Beauvoir – die in ihren Interviews mehr oder weniger eindringlich davor warnte, sich als Frau vorbehaltlos den Männern zu nähern. Sie selbst lebte ja auch in einer recht seltsamen On-off-Be­ziehung mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre,  der sich hin und wieder eine Geliebte gönnte und damit die eigentlich unabhängige Simone de ­Beauvoir in glühende Eifersuchtsdramen trieb. Äußerlich war sie vielleicht unabhängig – mit eigener Wohnung und schriftstellerischem ­Erfolg – aber ihr Herz?

Gefangen in Beziehungsmustern

Mit 17 hörte ich mich bei meinen Freundinnen nach den Beziehungen ihrer Eltern um. Es schien, als würden ihre Mütter ebenfalls zum großen Teil bekloppte Ehen führen, weil auch ihre Ehemänner allesamt einen auf unbeugsamen Egoisten machten. Inzwischen hat sich in punkto Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sicherlich einiges getan – aber damals Ende der 80er! Wir waren alle Töchter der 68er-Generation, wir alle hatten Mütter, die erst einmal nur davon träumten, leidenschaftlich zu lieben, zu leben und zu arbeiten– aber eben auch Mütter sein wollten, die für ihre Kinder da waren. In Freiheit.

Da keine der mir bekannten Mütter diese Vision bereits leben konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich selbst in Liebesbeziehungen zu erproben. Mutig und wild entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen, stürzte ich mich in Partnerschaften, aus denen ich als emotionales Wrack wieder heraus­gekrochen kam. Es war seltsam. Immer wieder stellte sich ein und derselbe Mechanismus ein: Zuerst hatte ich amazonenmäßig die Oberhand, doch sobald ich mich gefühlstechnisch auf den Jungen einließ, geriet ich in diese furchtbare Abhängigkeit und wurde zum Opfer, weil ich es – genau wie meine Mutter – nicht gelernt hatte, mich adäquat zu vertreten, aus Sorge, unattraktiv rüberzukommen. Allerdings war es auch nicht gerade attraktiv, zu allem Ja und Amen zu sagen oder hilflos herumzustottern. Ich erinnere mich noch, als mein Freund, den ich mit Anfang 20 hatte, zu mir nonchalant sagte: „Am nächsten Wochenende kommt mich eine gute Freundin besuchen. Da habe ich keine Zeit für dich.“ Ich nickte nur freundlich. „Ja, klar.“ Nach dem Wochenende kam mein Freund mit einer Pralinenschachtel vorbei. Meine beste Freundin sagte nur kopfschüttelnd: „Wir müssen dringend lernen, uns zu vertreten.“

Und das taten wir. Wir notierten uns praktische Sätze auf Zettel, die wir auswendig lernten, um uns im Zweifelsfall ohne Verzögerung vertreten zu können. So nach dem Motto: „Michael, du bist wirklich ein liebenswürdiger Mensch, aber dass du mich seit fünf Tagen nicht zurückgerufen hast, finde ich nicht schön.“

Nachdem die Zettel auch nicht die gewünschte Erlösung brachten, war die logische Konsequenz, mich an „Madonna“ zu orientieren. Musikalisch riss sie mich jetzt nicht gerade vom Hocker – ich stand eher auf Rock ’n’ Roll. Also „Guns N’ Roses“ und so weiter – eben langhaarige, tätowierte Typen, die sich nahmen, wonach ihnen gelüstete. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll! So wollte auch ich sein! Yeah! ­Dementsprechend faszinierte mich, dass sich diese Pop-Madonna nun tatsächlich – ohne mit der Wimper zu zucken – mal eben ein Kind machen ließ von dem vorbeijoggenden Fitnesstrainer Carlos Leon – um es alleine großzuziehen. Vermutlich aus exakt denselben Gründen, aus denen meine Mutter meiner Schwester und mir geraten hatte: „Heiratet bloß nicht, Kinder!“ 1996 war so ein offensiver Alleingang noch eine ziemliche Seltenheit.

Der erste Versuch der modernen Familie

Als ich mit Mitte 20 meine Tochter Lilly bekam, war das Praktische an der Sache, dass weder der Papa noch ich vorhatten, es überhaupt miteinander zu probieren. Inzwischen war ich männlicher als jeder Mann – was das Durchdrücken meines Lebenstraums anbelangte. Ich wollte als Schriftstellerin mindestens so bedeutend werden wie J. D. Salinger – der Autor von „Der Fänger im Roggen“. Und Lillys Papa hatte vor, Berlins Nachtleben zu revolutionieren. Die Tatsache, dass wir nicht zusammenwohnten und ich nicht mit ansehen musste, dass Christian kam und ging, wie er wollte, ­während ich zu Hause arbeitete und mich die meiste Zeit um unsere gemeinsame Tochter kümmerte, sorgte da­für, dass wir uns blendend verstanden. Ich schätze, wir waren damals die bestgelauntesten Eltern weltweit. Ich dachte wirklich, ich hätte die Lösung für alle freiheitsliebenden Frauen gefunden. Bis ich feststellte, dass es für ein Kind definitiv schöner ist, mit beiden Elternteilen zu leben. Immer öfter fragte Lilly nach ihrem Papa. Außerdem kam ich auch immer seltener zum Arbeiten, weil ja niemand außer mir da war.

So richtig frei war ich dann also doch nicht. Im Übrigen war die Sehnsucht nach einer Partnerschaft einfach nicht totzukriegen. Als Lilly drei Jahre alt war, heiratete ich. Im Glauben, inzwischen so „reif“ zu sein, dass ich mich gegen einen Mann würde durchsetzen können. Ich stellte also erst einmal klar, dass ich in Vollzeit arbeiten wollte. Mein damaliger Mann dachte wohl: „Wenn erst mal Kinder dazukommen, werden die Karten ohnehin noch mal neu gemischt.“ Wir bekamen unseren kleinen Sohn – aber die Karten wurden nicht neu gemischt. Ich war entschlossen, meine Unabhängigkeit, meine Freiheit mit Händen und Füßen zu verteidigen, ich kam mir unheimlich ­modern und fortschrittlich vor – ohne überhaupt zu erkennen, was ich damit gleichzeitig verlor: die Verbundenheit zu meiner Familie. Ich dachte:

„Wenn ich nicht arbeiten kann, dann existiere ich nicht.“ 

Ich war so geblendet von dem Gedanken nach „Freiheit“, dass ich gar nicht erkannte, dass ich mich diesem Gedanken längst versklavt hatte. Dass ich ständig am Kämpfen um meine Freiheit war und dadurch selbst vollkommen unfrei war und auch noch alle anderen mit in meine Unfrei­heit hineinzwang.

Inzwischen bin ich wieder verheiratet und habe fünf Kinder, das kleinste ist neun Monate alt und wieder eine Tochter. Ich arbeite noch immer. Gemeinsam mit meinem Mann. Es hat Jahre gebraucht, zu verstehen, dass sich Freiheit nur einstellt, wenn man aufhört, sich an den Gedanken daran fest­zuklammern. Freiheit bedeutet, sich dem anderen zu offenbaren, auf ihn zuzugehen, ihm zu sagen, was man sich wünscht, zuzuhören, Lösungen zu finden – es zu schaffen, im anderen den besten Freund zu sehen und nicht den Feind. In Liebe und Verbundenheit. 

 Alexa Hennig von Lange und ihr Mann, der Journalist  Marcus Jauer, schreiben in „Stresst ihr noch oder liebt ihr  schon?: Warum Familie nicht das Problem ist, sondern die  Lösung“ über den Alltag Großfamilie – und warum sich  beide heute trotzdem freier fühlen als früher (Gütersloher  Verlagshaus, 17,99 Euro).

Bei haz.de könnt ihr ein spannendes Interview mit Alexa Hennig von Lange und Marcus Jauer lesen: Warum Patchwork glücklich macht.

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