In der Mitte des Lebens angekommen suche ich MICH.
Das letzte Jahr war anders als die vorherigen. Der erste bedeutende Todesfall in der Familie. Vier Wochen später begrüße ich mein kleines Sternenkind, gleichzeitig erspüre ich die eigene Sterblichkeit. Hilflos lag ich da, während das Leben aus mir raus pumpte. Angst, Verzweiflung, die Gleichgültigkeit, die sich irgendwann einstellte. Danach die Abhängigkeit, die Hilfe, die verwehrt wurde. Die Ehe, die das Ganze nur mit Mühe übersteht. Die berufliche Sackgasse, die nur schwer einzugestehen ist. Die Planlosigkeit, die Trauer. Zum ersten Mal erlebe ich, was das Leben noch alles für mich bereit hält. Plötzlich ist Kummer, Leid, Tod näher gerückt.
Ich bin nicht mehr Anfang 20. Damals lag das Leben noch vor mir, es hatte gerade begonnen. (Wer seine Jugend auf dem Dorf verbracht hat, weiß, was es bedeutet, plötzlich in der großen-großen Stadt angekommen zu sein. Frei von allen Fesseln, alle Möglichkeiten offen.) Und ich bin, wie ein Schmetterling mal in die eine Richtung geflattert, mal in die andere, hier ein bisschen Nektar geschnuppert, dort ein bisschen und immer in der Sonne. Bei Regen durfte ich mich verstecken, es war ja alles noch nicht ernst. Ich konnte mich in alle erdenklichen Richtungen träumen, und das ganz ohne mich entscheiden zu müssen, ohne Farbe zu bekennen, wer ich denn nun eigentlich bin. Meinen Ängsten, Schwächen und Fehlern, meinen Grenzen und Begrenzungen musste ich mich zu der Zeit noch nicht stellen.
Diese Zeit ist vorbei. Ich vermisse sie, die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit, die Zuversicht. Was setzt sich an ihre Stelle?
Wie bewahre ich mir das Vertrauen in die Zukunft, wenn ich genau weiß, was jederzeit passieren kann, wenn ich weiß, was in diesem Moment alles schreckliches passiert? Wenn ich weiß, dass gerade in diesem Moment Freunde von mir unheilbar krank sind, Kinder unglücklich, in der Schule scheitern, ihrer Zukunft beraubt werden, Ehen scheitern, Freundinnen von ihren Männern erniedrigt und isoliert werden, und ich mir gar nicht vorzustellen wage, wo das noch hinführt.
Ich bin Mitte 30. Das Leben ist im vollen Gange. Das kam plötzlich. Ich dachte nicht, dass es so wird. Meine jugendliche Naivität ist verloren. Natürlich bin ich dankbar sie gespürt zu haben, gedacht zu haben, dass alles möglich ist, dass alles super und leicht ist. Gleichzeitig macht es mich unglaublich wütend, wenn uns als erwachsenen Menschen weiß gemacht wird, das Leben könnte immer noch so sein, wenn wir nur stärker wären.
Das Leben ist nicht die ganze Zeit super, es ist auch nicht permanent cool. Das Leben kennt auch Leid, es kennt Ungerechtigkeit, es kennt Not, genauso wie Langeweile, Enttäuschung und Eintönigkeit. Wir können diese Leere, die sich einstellt, wenn die Träume platzen, mit Konsum zu schmeißen, wir können auch religiös werden oder zu trinken anfangen. Eine Affäre lindert den Schmerz auch, zumindest so lange, bis sie noch größeren Schmerz verursacht. Den Ex zurückgewinnen kann nur in manchen Fällen helfen. Oder wir können uns auf die Suche nach uns selbst begeben.
Nach all den Jahren, in denen ich geträumt haben, wer ich sein möchten, ist es vielleicht jetzt an der Zeit, nach meinem wirklichen Ich zu suchen. Vielleicht finde ich mich. Dann hätte ich im Alter sogar noch die Möglichkeit, ein paar schöne Jahre mit mir zu verbringen.