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Häusliche Gewalt: „Ich schlug nie zurück. Kein einziges Mal. Ich wusste instinktiv, ich würde das nicht überleben“

Jeden Tag versucht allein in Deutschland ein Mann, seine Partnerin zu ermorden. Die Journalistin Antje Joel lernt mit 16 Jahren ihren späteren Ehemann kennen, er schlägt sie nach wenigen Monaten – trotzdem bleibt sie bei ihm. In ihrem Buch „Prügel. Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt“ erzählt sie ihre Geschichte – und erklärt eindrücklich, was Frauen in Gewaltbeziehungen treibt und dort hält.

Jede dritte Frau erfährt Gewalt durch einen (Ex)-Partner

Häusliche Gewalt ist kein individuelles, sondern ein soziales und gesundheitliches Problem von globalem epidemischen Ausmaß und laut Weltgesundheitsorganisation eine Verletzung der Menschenrechte der Frau. Jede dritte Frau erfährt mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner oder Expartner. 38 Prozent der weiblichen Mordopfer weltweit werden von einem männlichen Partner getötet. Allein in Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine Partnerin zu ermorden. Jeden zweiten Tag ist einer in diesen Bemühungen erfolgreich. Damit ist Deutschland eines der EU-Länder mit der höchsten Mordrate an Frauen durch einen Ex-Partner oder Partner. Das korrespondiert mit der mangelnden Gleichstellung in unserem Land: Deutschland hat auch einen der höchsten Gender-Pay-Gaps in der Europäischen Union. Und eine der niedrigsten Raten von Frauen in Führungspositionen. Die WHO erkennt häusliche Gewalt als Ausdruck jahrhundertealter Manifestation männlicher Überlegenheit in unserer Gesellschaft an.

Die Journalistin Antje Joel hat in zwei Ehen Gewalt erfahren. In ihrem neu erschienenen Buch „Prügel“ schildert sie eindrücklich ihre eigenen Gewalterfahrungen – und ordnet ihre individuellen Erlebnisse ein in gesellschaftliche Voraussetzungen, die Gewalt gegen Frauen überhaupt erst möglich machen. Derzeit macht die Autorin einen Master in „Verständnis häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe“.

Die Journalistin und Autorin Antje Joel. (Bild: Marta Faye)

Wir veröffentlichen hier einen Auszug aus dem Kapitel „Hilferufe“:

Mir war es „zu gut gegangen“

Ein einziges Mal rufe ich die Polizei. Mein Sohn ist gerade ein paar Wochen alt, und P. hat wieder zu prügeln begonnen. Die Schonzeit, oder was immer das war, das er mir da für die Dauer der Schwangerschaft (für die Dauer dieser Schwangerschaft) gewährt hat, ist vorbei. Ich weiß nicht, ob ich gleich beim ersten Mal, als er nach der Geburt des Kindes wieder zuschlug, um Hilfe rief. Möglich. Die so lange Abwesenheit körperlicher Gewalt (über neun Monate!) würde erklären, warum ich dieses Mal von ihr überrascht war.

Warum ich es dieses Mal nicht für gerechtfertigt, warum ich es nicht für normal hielt, dass er mich schlug. Warum ich es noch nicht wieder für normal hielt. Mir war es „zu gut gegangen“. So haben es meine Eltern früher gesagt, sobald ich, nach ihren guten, mir zugewandten Phasen, einen Anflug von Selbst-Bewusstsein und – gottbewahre – Widerspruch zeigte: „Dir geht es zu gut!“ So sagt es jetzt auch P.: „Ich war zu gut zu dir.“ Und nun guck mal, zu was das geführt hat! Kaum pfeift er mich zurück auf meinen Platz, fühle ich mich „misshandelt“ und schreie gleich nach der Polizei!

Das Schlagen soll aufhören

Ich will aber nur, dass das Schreien aufhört. Seines. Und meines. Denn die Nachbarn, oh Gott, die Nachbarn, die haben uns so noch nicht gehört! Und ich will, dass das Schlagen aufhört. Ich will, dass ihn jemand stoppt. Und damit soll es dann auch schon gut sein. Soll alles wieder gut sein. Er soll einfach nur einsehen, dass er mich nicht schlagen darf. Das muss ihm jemand sagen. Jemand, der etwas zu sagen hat. Den er für voll nimmt. Mir fällt niemand anderes ein als die Polizei.

Und doch, mehr als ich mir von der Polizei verspreche, habe ich Angst vor ihr. Ich habe Angst, als ich die Nummer wähle. Angst, als ich spreche. Noch am Telefon, als ich erklären will, dass und wie sehr und wie lange er zugeschlagen hat, wie sehr ich mich fürchte, vor P., sage ich auf die wiederholte Nachfrage des Beamten: „So schlimm ist es nicht.“ Und das stimmt. Irgendwie. P., der eben noch wie ein Wahnsinniger auf mich eingedroschen hat, wiegt jetzt das weinende Baby. Er kümmert sich. Um unseren Sohn. Während ich – wieder mal – nur an mich denke und eine „Show abziehe“.

P., mit dem Baby auf dem Arm, tigert im Wohnzimmer auf und ab und schüttelt den Kopf. Über mich. Ich zögere. Der Beamte klingt ärgerlich. „Also, müssen wir jetzt jemanden zu Ihnen schicken oder nicht?“ – „Bitte“, sage ich kläglich, und der Mann am Telefon macht ein Geräusch. So einen bestimmten, mir sehr bekannten Ton. Diesen Ton, der entsteht, wenn einer ausatmet, der kurz vor dem Platzen steht. Ich würde gern einen Rückzieher machen. Auflegen. Verschwinden. Vergessen. Aber der Beamte hat gleich zu Beginn des Gesprächs meinen Namen notiert. Und die Adresse. Und blöderweise habe ich immer noch Angst, vor P. Ich glaube, ich fürchte mich mehr vor ihm als vor den Polizisten. Aber genau kann ich das nicht sagen.

Was ist aus mir geworden?

Der Mann am Telefon sagt: „Wir schicken einen Einsatzwagen.“ Ich zucke zusammen. Bei dem Wort. Bei dem Satz. Er klingt nach Mord und Totschlag und zu viel Fernsehen. Meine Mutter liebt den „Tatort“. Schon immer. Sie ist ein großer Fan von Mord und Totschlag und Einsatzwagen. Solange die bitte nicht aus dem Fernsehen heraus in ihr Leben purzeln. In ihrem Leben haben die nichts zu suchen. Ich denke: Auch nicht in meinem. Was hat so ein „Tatort“-Satz mit mir und P., was hat er mit unserer Ehe zu tun. Was ist aus mir geworden. Wie bin ich hier gelandet. Auf diesem Schrotthaufen der Gesellschaft. Als die Art Mensch, für den die Polizei einen Einsatzwagen schickt.

Wenn ich noch zu Hause wäre, in unserer Stadt, wo mich jeder kennt, wo jeder meine Eltern kennt, hätte ich mir das nicht erlauben können. Da hätte ich die Polizei nicht gerufen. Das hätte ich ihnen nicht antun können. Ich versuche, P. das Baby abzunehmen. „Verpiss dich“, sagt er und schlägt kurz und entschieden nach meiner Hand. „Du hysterische Kuh machst ihm Angst.“ Ich ziehe meine Hände zurück. P. hat recht. Es ist ganz offensichtlich, wer von uns beiden der bessere Elternteil ist. P. ist nicht hysterisch. P. weint nicht. Zittert nicht. Er hat keine Angst. Vor mir. Oder vor der Polizei.

Es klingelt. Ich drücke den Türöffner für die Haustür unten und gehe hinaus auf den Flur. Treppenabsatz, zweiter Stock. Unten höre ich Männerstimmen. Ich beuge mich über das Geländer. „Hallo“, sage ich. „Ich bin hier.“ Ich hatte gedacht, meine Stimme klänge fester. Ein Männergesicht schiebt sich über das Geländer unten im Flur und schaut im Treppenhaus zu mir hoch. Polizeimütze auf dem Kopf. „Haben Sie uns gerufen?“, fragt das Gesicht. „Ja“, sage ich. Wo ist P.? In der Wohnung hinter mir weint das Baby. P. kümmert sich. Ich wünschte, er käme raus in das Treppenhaus und kümmerte sich um mich. Ich wünschte, er stünde mir bei. Ich weiß, wie wahnsinnig das klingt. Nicht erst jetzt. Ich weiß es damals schon. Dass ich um meinen Wahnsinn weiß, trägt zu meiner Scham, zu meinem Gefühl von Nichtswürdigkeit bei. Aber es ist auch so: In diesen Minuten im Treppenhaus habe ich nichts und niemanden mehr. Nicht mal P.

Bestellt und nicht abgeholt

Die Polizisten steigen die Treppen herauf. Zwei Stockwerke. Ich stehe auf dem Absatz. Fühle mich fehl am Platz. „Wie du dastehst. Wie bestellt und nicht abgeholt“, haben meine Eltern immer gesagt. Bestellt und nicht abgeholt. Das bin ich, seit ich denken kann. „Was ist denn hier los?“, fragt der Beamte, der im Treppenhaus hochgeschaut hat. Er runzelt die Stirn. Er ist schon älter. Vielleicht Mitte 40. Ich denke: Er könnte mein Vater sein. Vielmehr fühle ich es. Sein Blick, seine Stimme, sein Ton, alles an ihm fühlt sich väterlich an. Auf jene erschreckende, furchterregende Art.

„Mein Mann hat mich geschlagen.“ Noch während ich das sage, spüre ich, wie lächerlich das klingt. Ich klinge wie früher, wenn ich vom Spielen draußen nach Hause kam und weinte. „Die Jungs aus dem Nachbarhaus haben mich geschlagen.“ – „Du liebe Zeit, Mädchen“, knurrte mein Stiefvater. „Jaul doch nicht immer rum. Schlag zurück.“ Einmal schlug ich zurück. So fest ich konnte. Die Eltern des Jungen kamen, um sich zu beschweren. „Du liebe Zeit, Mädchen“, sagte mein Stiefvater. „Ich habe gesagt: ,Schlag zurück.‘ Nicht: ,Schlag ihn tot.‘“ Ich schlug dann nicht mehr zurück. Auch bei P. schlug ich nicht zurück. Nie. Nicht ein einziges Mal. Ich kauerte nur in der Ecke, hielt die Arme über meinem Kopf verschränkt, um mich, so gut das eben ging, zu schützen, und jaulte. Ich wusste instinktiv, schlüge ich zurück, würde ich das nicht überleben.

„Hatten Sie Streit?“

„Na“, sagt der Polizist. „Sie können doch noch aus der Wohnung raus und uns im Treppenhaus entgegengehen. Was wollen Sie denn?“ „Ich weiß es nicht“, sage ich zaghaft. Der Polizist schüttelt den Kopf. „Wo ist denn Ihr Mann?“ Aber P. ist schon aus der Wohnungstür hinausgetreten. Das Kind auf dem Arm. Vater und Sohn. Und eine verheulte, zerzauste Frau. „Was ist denn hier los?“, fragt der Polizist ein zweites Mal. P. zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagt er. „Meine Frau“, sagt er. Und dann nichts mehr. Als erklärten diese zwei Worte schon alles. „Hatten Sie Streit?“, fragt der Polizist. Als seien Streithaben und Die-Frau-schlagen ein und dasselbe. „Ja“, sagt P. „Und jetzt ist es wieder gut?“ P. nickt.

„Und Sie beide reißen sich jetzt zusammen?“ P. hebt wieder die Schultern. An-ihm-soll’s-nicht-liegen. Er wiegt das Kind und sieht mich an. Alle drei Männer sehen mich an. „Ihr Mann sagt, es ist jetzt okay“, sagt der Polizist. „Und ehrlich gesagt, sieht er ja auch ganz vernünftig aus.“ Im Gegensatz zu mir zerrupftem, verstörtem Huhn. Das noch laufen kann. Das sogar aus der Wohnung darf. Und trotzdem die Polizei herbeitelefoniert. Als hätte die Polizei nichts Wichtigeres zu tun.

„Wollen Sie es wirklich so weit kommen lassen?“

„Wir können ihn natürlich auch mitnehmen“, sagt jetzt der andere Polizist. „Und bis morgen festhalten.“ Er wartet einen Moment, bevor er die nächste, die entscheidende Frage stellt. „Wollen Sie das?“ Er sieht mich an, und seinem Blick und Tonfall entnehme ich: Das ist nicht wirklich seine Frage. Seine Frage ist: „Wollen Sie es wirklich so weit kommen lassen?“ Habe ich es nicht schon weit genug kommen lassen? Ohne dass ich meinen Mann, Vater meines Kindes in den Knast bringe? Drei Männer sehen mich an. Und für den Augenblick liegt scheinbar tatsächlich alles in meiner Hand.

Umfragen aus den USA zeigen: Die Mehrzahl der Frauen ruft die Polizei in akuten häuslichen Gewaltsituationen nicht, damit sie den Täter verhaften. Ihr Anruf ist ein Hilferuf auf der einfachsten Basis: Sie rufen die Polizei, weil sie wollen, dass die Beamten dem Terror ein Ende machen. Und ihrer Angst. Sie wollen, dass die Beamten den Mann beruhigen. Ihm „ins Gewissen reden“. Ihm Grenzen setzen. Sie wollen diesem Mann, den sie lieben und fürchten, nicht länger allein gegenüberstehen. Im praktischen und im übertragenen Sinne.

Was tat ich nur, um ihn zu „provozieren“?

Mein dominierendes Lebensgefühl mit P. war Angst. Ich fürchtete mich. Rund um die Uhr. Tag für Tag. Ich weiß nicht, ob mir das damals bewusst war. Ich glaube nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich fünf Jahre – mit Unterbrechungen – überlebt hätte in andauernder, panischer, bewusster Angst. Ich glaube, ich überlebte, indem die Angst zu einem Teil von mir wurde. In den Prügelphasen fürchtete ich mich vor P. und seinen Schlägen und Tritten. Ich fürchtete mich vor den Nachbarn, vor ihrem Klopfen gegen die Zimmerdecke. Ich fürchtete mich vor der Polizei. Die jemand einfach so rufen könnte. Und der ich mich dann erklären müsste. Wenn ich, was gemessen an der Häufigkeit seiner Prügel selten genug vorkam, selbst andere um Hilfe anrief – meine Eltern, das Frauenhaus und einmal, die Polizei –, fürchtete ich mich vor erhobenen Augenbrauen. Stirnrunzeln. Kopfschütteln. Vor der ewig gleichen Frage: „Warum?!“ Warum, verflucht noch mal, ließ ich mir das gefallen? Was war los mit mir? Was tat ich nur, um ihn zu „provozieren“?

(…)

Ich will, dass das Schreien und das Schlagen aufhört. Nicht nur für diesen Abend. Für immer. Ich will, dass mein Mann mich liebt. Nicht auf die verletzende, schmerzhafte, zerstörerische Art, von der auch er immer wieder beteuert, dass es die ganz große, leidenschaftliche Liebe ist. Ich will, dass er mich so liebt, dass ich es nicht nur höre („Aber ich liebe dich doch“). Ich will es fühlen können. Wie fühlt sich Liebe, wirkliche Liebe an? Ich weiß es nicht. Und mir das zu erklären und meinen Mann zu dieser Art Liebe zu bringen, ist nun auch wirklich nicht Aufgabe der Polizei.

„Nein“, sage ich. „Bitte nicht. Es ist schon gut.“

Antje Joel: Prügel: Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt, Rowohlt Taschenbuch, Januar 2020, 12 Euro.

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