Wirtschaftliche und sexuelle Freiheit sind Geschwister. Die liberale Sexualethik beruht auf den gleichen Prinzipien wie der Kapitalismus.
Eine kulturelle Kluft
Gérard Bökenkamp ist Historiker, Buchautor und Referent der Friedrich-Naumann-Stiftung. Zuletzt ist sein Buch „Ökonomie der Sexualität“ erschienen. Für unseren Partner Capital schreibt er über die kulturelle Kluft zwischen dem Islam und dem Westen und die Ähnlichkeiten von wirtschaftlicher und sexueller Freiheit.
Die sexuelle Freiheit ist heute eines der markantesten Merkmale liberaler, westlicher Gesellschaften. Die Wirtschaftswissenschaftler Pippa Norris und Ronald Inglehart haben anhand von zwischen 1995 und 2001 durchgeführten Meinungsumfragen ermittelt, dass die größten Unterschiede im Meinungsbild der westlichen Länder in Europa und Nordamerika und der arabischen Welt nicht die Ansichten über demokratische Werte betraf, sondern den Umgang mit Sexualität. Ihr Fazit lautete: „Die kulturelle Kluft, die den Islam vom Westen trennt, betrifft Eros viel stärker als Demos.“
Im Westen hat sich eine liberale Sexualethik etabliert, die drei wesentliche Bestandteile umfasst: Das Recht auf freie Wahl der Motivation für den Sex, freie Wahl des Sexualpartners und freie Wahl der Sexualpraktik. Weder Motiv noch Partnerwahl noch Praktik dürfen demnach zur Begründung eines Verbots oder einer Sanktion herangezogen werden, solange alle Beteiligten ihre Zustimmung gegeben haben und mündige, geschäftsfähige Bürger sind.
Wirtschaftlicher Freiheit zog die sexuelle Freiheit nach sich
Die liberale Sexualethik ist von ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung eng mit der Geschichte des Kapitalismus verknüpft. Die wirtschaftliche Freiheit und die sexuelle Freiheit sind insoweit Geschwister, als dass sie sich auf dieselben Grundprinzipien – Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, Recht auf Eigentum und Vertragsfreiheit – zurückführen lassen. Die Historikerin Joyce Appleby beschreibt den Kapitalismus nicht nur als ein Wirtschaftssystem, sondern als eine breite kulturelle Transformation, die nicht nur die Ökonomie, sondern auch das Rechtssystem, die Politik und das individualistische Weltbild umfasst. So wie Grund und Boden und das Privateigentum allgemein von den kollektiven Verpflichtungen getrennt wurden und das Individuum Autonomie über seine materiellen Güter gewann, so wurde nach und nach auch das individuelle Verfügungsrecht über den eigenen Körper von den verwandtschaftlichen und kollektiven Verpflichtungen losgelöst. Die wirtschaftliche Freiheit zog die sexuelle Freiheit nach sich.
Neben der soziologischen Revolution, die mit dem Kapitalismus einherging, und die dazu führte, dass Individualrechte an die Stelle kollektiver Zugehörigkeit traten, trug ein weiterer Faktor der modernen Wirtschaft zur sexuellen Revolution bei – die Aktivitäten kreativer Unternehmer. Die Historiker John D’Emilio und Estelle B . Freedman weisen darauf hin: „Ein untrügliches Zeichen für die Neuorganisation der Sexualität war das breite Vordringen von Unternehmern in den Bereich der Sexualität.“
Schon im 18. Jahrhundert bedienten sich die Verleger, Redakteure und Journalisten auf dem ersten Markt für Massenmedien in Europa, in England, dem Interesse an der Sexualität, um ihre Auflagen zu erhöhen. Es entstand auch ein „blühender Handel“ mit englischen Erotika. Seit den 1750er-Jahren wurden in England Bilder berühmter Kokotten populär und als Massenware verkauft. Diese begannen schließlich sogar, ihre Autobiographien zu schreiben und zu veröffentlichen. Durch die Entstehung dieses Marktes gelang es selbst bekennenden „Huren niederer Herkunft dank ihrer sexuellen Wirkung zu ungeahntem politischen und wirtschaftlichen Erfolg“ zu bringen.
Das Wirtschaftswunder war die Basis für die sexuelle Revolution
In Deutschland steht die Unternehmerin Beate Uhse prominent für viele Unternehmer, die mit ihrem Organisationstalent und ihrer Risikobereitschaft die traditionellen Grenzen unterliefen und ihr Geschäftsmodell auch gegen die Zugriffe der Politik und der Justiz verteidigten. Die Historikerin Sybille Steinbacher schreibt über sie: „Beate Uhse stand für drei Entwicklungen: für die Gleichsetzung von Sexualität mit Markt, Geld und Warencharakter und die wachsende Konsumfreude der Bundesbürger, für das desaströse Scheitern der Justiz im Sittlichkeitskampf und schließlich für die unmittelbar an Sexualität geknüpfte, auf Kinsey zurückgehende Überzeugung von Fortschritt und Freiheit.“ Ihr Erotikversandhandel konnte schon im Jahr 1957, auf dem Höhepunkt der Adenauer-Ära, 200 .000 Kunden verzeichnen. Das war aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Gesamtzahl der Kunden auf dem Erotikmarkt zu dieser Zeit wird auf acht Millionen geschätzt. Uhse konnte die Zahl ihrer Kunden in kurzer Zeit bis zum Jahr 1961 auf 1,4 Millionen steigern.
Weit mehr als die marxistische Gesellschaftskritik der 68er-Bewegung können wir Erhards Wirtschaftswunder als die Basis für die sogenannte sexuelle Revolution in den letzten Jahrzehnten ansehen. Deren Ergebnis war die weitgehende Durchsetzung der Grundprinzipien der liberalen Sexualethik, so wie sie bereits in den Schriften von John Locke und Jeremy Bentham vorgezeichnet war: Straffreiheit frei gewählter sexueller Handlungen zwischen erwachsenen Menschen, die diese untereinander aushandeln können. Den letzten Schritt auf diesem Weg vollzog später die rot-grüne Bundesregierung mit der Legalisierung der Prostitution als Gewerbe und der Anerkennung der Sexarbeit als Arbeit.
Was einst undenkbar war, und noch lange als unsittlich und fragwürdig galt, das ist im Westen heute Normalität. Erotische und romantische Beziehungen sind eine private Angelegenheit geworden, die Männer und Frauen ebenso selbstständig regeln können wie den Umgang mit ihrem Einkommen, die Wahl des Berufes und des Arbeitsplatzes und die Entscheidung über den Wohnort und den Erwerb von Eigentum.
HINWEIS: Die Veröffentlichung des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Capital – Das Online-Portal des Wirtschaftsmagazins Capital mit Reportagen, Analysen, Kommentaren aus der Welt der Wirtschaft und der persönlichen Finanzen.
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