Ein Gesellschaftsroman über den Zerfall von Jugoslawien. Als in einer Kleinstadt das Miteinander aufgegeben wird und Einfalt Vielfalt metzelt
Es sind die Frauen, die den Takt, die Stimmung und die Handlung in dem wunderschönen Roman, Die Bauchtänzerin, ausmachen. Es sind Vildana und Sandra, die in einer erfundenen Stadt, in einem sehr realen Jugoslawien, bis zum Ausbruch des Bosnienkrieges leben.
Die Autorin Safeta Obhodjas lässt ihren großen Roman mit einem unerwarteten Aufeinandertreffen in Deutschland beginnen. Zwei Flüchtlingsfrauen in einer Kleiderkammer, den Schwestern in Not. Sandra, verzweifelt, hat ihren Koffer verloren, sie braucht neue Kleidung, nichts passt, sie ist dünn geworden. Abhilfe gibt es, wird ihr beschieden, hinten in einer Kammer sitzt eine Änderungsschneiderin, eine Flüchtlingsfrau, die gut näht, die ändert die Kleidung, dass sie passen wird. So treffen sich Sandra und Vildana Mulic wieder, Kinderfreundinnen aus der kleinen Stadt Carsija.
Die zeitliche Strecke, die in dem epischen Gesellschaftsroman zurück gelegt wird, beginnt im Vielvölkerstaat Jugoslawien und endet nicht an der Schwelle des Bosnienkrieges, sondern danach. Das Städtchen Carsija, nicht mehr Dorf, aber auch nicht Stadt, ist ein Schmelztiegel, die Menschen mögen sich oder auch nicht und wissen alles voneinander. Die verschiedenen Herkünfte produzieren keine unterschiedlichen Lebensgeschichten mehr, der oder das Andere blitzt lediglich in Scherz- und Schimpfworten auf, oder weil die Mädchen mit ihrer Rädelsführerin Vildana aus der folkloristischen Tanzgruppe serbische Frauentänze ablehnen. Es hat den Anschein, als hätten die unterschiedlichen Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse keinen realen Einfluss mehr auf die Menschen.
Aber die Geschichte erfüllt sich zum einen aus dem Blickwinkel von Sandra, der Fotografin, die zurückgenommen, fast distant ist, so als wäre immer das Objektiv zwischen Beobachtender und Abgebildetem. Sandras Hauptaugenmerk gilt Vildana, für deren hochfahrende Art sie eine Art Hassliebe empfindet. Sandra widmet, bevor sich die Blende für den Ort Carsija endgültig schließt, lange Augenblicke dieser kosmopolitschen Kleinstadt, erfasst die Bewohner genau in ihren Eigenheiten, schildert das Leben, das Besim, Vildanas Vater, zu dem Auspruch motiviert:“…-So was kann man nirgendwo in Europa finden. Gemütlich lebt bei uns sogar ein Donauschwabe – wiederholte er in jedem Interview, dass er als Bürgermeister … gab. ….”
Die andere Sicht, die lebendigere gehört Vildana. Ihre Familie, die Mulic’, sind eine alteingesessene, früher reiche Familie muslimischen Ursprungs. Besim, der Vater ist Bürgermeister, die Mutter Edina Leiterin der Volkshochschule, Vildanas Bruder Amar, angehender Arzt und Idol der Mädchen in dem Städtchen. Vildana, die Modeschöpferin werden möchte, ist stolz auf ihre Familie, sie gibt in der Tanzgruppe und unter ihren Freundinnen den Ton an; genießt ganz offen die herausgehobene Position der Mulics mit dem größten und schönsten Haus in der Stadt. Alle lieben Vildana. Meint sie.
Bedrückend genau dekliniert Safeta Obhodjas am Beispiel von Carsija, wie Miteinander auseinander brechen kann. Wie zuerst vermeintliche Gegensätze betont werden. Wie diese Gegensätze zu Formeln gerinnen, christlich, muslimisch, was immer. Jeder muss etwas sein. Die Bauchtänzerin zeigt am Beispiel von Vildana, wie Menschen durch Zuschreibungen separiert werden. Die Bauchtänzerin spart nicht die Gewalt des sich anschließenden Bosnienkrieges aus, sondern zeigt erdrückenderweise auch, wie perfide nebenbei Rechnungen beglichen wurden. Ein wichtiges Buch.
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Das Buch: Safeta Obhodjas: Die Bauchtänzerin. Roman. Digitales Original. CulturBooks Longplayer, April 2015. 430 Seiten. 7,99 Euro. ISBN 978-3-944818-80-1
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