Die Diskussionen um das bedingungslose Grundeinkommen sind zahlreich geworden, aber was genau bedeutet es eigentlich, wenn der Staat einem jeden Monat einen Festbetrag überweist, der an keine Bedingungen geknüpft ist?
Immer mehr Länder ziehen das bedingungslose Grundeinkommen in Erwägung
Mal im Ernst: Wir müssen über dieses Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) reden. Seit Monaten geht es durch die großen Medien, national und international. Länder wie die Schweiz, Finnland und Kanada tragen sich mit dem Gedanken, es einzuführen oder wollen es zumindest testen. Politiker verschiedenster Couleur sympathisieren mit dem BGE und reiche und kluge Menschen wie Götz Werner, Gründer der Drogeriemarkt-Kette DM, oder der belgische Philosoph Philippe Van Parijs unterstützen es ebenfalls.
Philipp Nagels hat sich für unseren Partner Business Insider mit Menschen unterhalten, die das bedingungslose Grundeinkommen für ein Jahr bekommen haben. Hier schildern sie ihre Erfahrungen.
Was hat es also mit dem Grundeinkommen auf sich?
Die Grundidee ist einfach und zunächst bestechend: Jeder Mensch soll pro Monat einen festen Betrag vom Staat erhalten, zum Beispiel 1000 Euro. Dieses Grundeinkommen dient zur Existenzsicherung und ist an keine Bedingungen geknüpft. Alle Bürger eines Staates erhalten es und können das Recht darauf nicht verlieren. Die Idee ist übrigens nicht neu, doch nie hatte sie eine solche Konjunktur wie heute.
Komplizierter wird es, wenn man anfängt, sich die konkrete Umsetzung vorzustellen. Die Einführung eines BGE würde das komplette Sozialsystem umkrempeln, hätte Auswirkungen auf sehr vielen Ebenen. Viele gute Implikationen, sagen die Befürwörter — viele nicht so gute, sagen die Kritiker.
Luftschloss von Politidealisten oder die Revolution, die wir brauchen?
Je nachdem, wen man fragt, ist das BGE entweder ein sozial- und wirtschaftspolitisches Luftschloss oder der Neuentwurf für eine Gesellschaft, die sich an ihrem eigenen Fortschritt erschöpft; eine Idee, die gerade verrückt genug ist, um die Revolution zu bringen, die wir brauchen angesichts aller Herausforderungen.
Nun, wer hat Recht?
Ihr könnt euch die Antwort schon denken: Man muss das Ganze natürlich differenziert betrachten. Es ist eine gesellschaftspolitische Gleichung mit vielen Unbekannten. Einige von diesen Variablen wollen wir für euch genauer beleuchten und Antworten auf die Fragen finden, die die Debatte bestimmen: Macht es die Menschen faul? Ist es überhaupt finanzierbar? Und wer würde tatsächlich davon profitieren?
Im ersten Teil unserer BGE-Reihe stellen wir euch drei Menschen vor, die aus erster Hand berichten können, wie es sich damit so lebt.
Sonja, Olga und Gerald (möchte anonym bleiben, Name von der Red. geändert) haben bei dem Berliner Projekt Mein Grundeinkommen mitgemacht und je 12.000 Euro gewonnen. Über ein Jahr bekamen oder bekommen sie 1000 Euro pro Monat ausgezahlt. Hier sind ihre Geschichten:
Sonja (28), Mediengestalterin
An dem Abend, der Sonjas Leben für die nächsten zwölf Monate verändern soll, bricht der Stream ab. Die ersten zwei Zahlen ihrer Losnummer stimmen schon mal, jetzt werden die letzten beiden gezogen. Doch die Website mit dem Stream der Verlosung ist down. Zu viele Menschen hoffen gerade auf das Los, das irgendwie Freiheit verspricht, oder etwas hinreichend ähnliches.
Zwei Stunden später, Sonja ist nun unterwegs und checkt ihr Smartphone. Ihre Hände beginnen zu zittern. Alle ihre vier Zahlen sollen mit dem Gewinnerlos übereinstimmen. Sie ruft einen Freund an, der bestätigt: Ja, deine Zahlen, 12.000 Euro über ein Jahr, Bedingungsloses Grundeinkommen, Glückspilz, Glückwunsch!
„Ich habe Freudensprünge gemacht und konnte es gar nicht richtig fassen. Es fühlte sich irreal an“, sagt Sonja heute. Seit Dezember 2015 bezog sie eines der 36 BGE, die Mein Grundeinkommen bisher verlost hat. Sonja lebt mit ihrem Freund, Jurist im Referendariat, in der Nähe von Stuttgart. Von den ersten 1000 Euro kauften sie der gemeinsamen Tochter neue Möbel und sich selbst: energieeffizientere LED-Birnen.
Sonja traut sich jetzt, über eine berufliche Neuorientierung nachzudenken
„Wir haben uns Sachen angeschafft, die wir sonst immer zurückgestellt haben“, erklärt Sonja, „und gehen öfter mal essen. Doch den größten Teil wollen wir sparen.“ Die Berufserfahrungen vor dem BGE haben Sonja vorsichtig werden lassen. Ihre Branche ist durch Digitalisierung und Globalisierung einem rasanten Wandel unterworfen. Mediengestalter gibt es überall auf der Welt und die meisten arbeiten günstiger als die deutschen.
„Es gibt einem etwas mehr Würde, wenn man die Wahl hat, selbst zu entscheiden.“
Aktuell ist Sonja befristet angestellt, sie hofft auf eine Verlängerung ihres Vertrages. Seit dem BGE arbeitet sie befreiter: „Man geht zur Arbeit, nicht weil man muss, sondern weil man darf. Die Existenz ist abgesichert.“ Ihr Job macht ihr Spaß, doch mit dem BGE im Rücken erlaubt sie sich den Gedanken, noch einmal etwas Neues zu lernen, falls das mit der Mediengestaltung keine Zukunft hat.
Das wäre vorher nicht denkbar gewesen. Für Sonja die entscheidende Veränderung: Sie ist gelassener und entspannter geworden. Es dreht sich nicht mehr alles ums Geld. BGE bedeutet für sie: eine Sorge weniger. Sich eine berufliche Findungsphase erlauben können, ohne Angst vor Sanktionen und Bewerbungen auf Jobs, die man ohnehin nicht möchte. Sonja sagt es in einem kleinen, großen Satz: „Es gibt einem etwas mehr Würde, wenn man die Wahl hat, selbst zu entscheiden.“
Robin (10) mit Mutter Olga (47), Krankenschwester
Als Robin erfährt, dass er für seine Familie ein BGE gewonnen hat, ist er begeistert. Er wünscht sich davon jeden Monat ein neues Buch! Doch was sollen sie mit dem ganzen restlichen Geld machen? Robin ist nach vielen Gesprächen etwas überfordert und braucht Bedenkzeit. Nach ein paar Tagen hat er eine Idee: Er möchte seine Eltern und seine Schwester zum Essen einladen.
Seine Mutter Olga muss schmunzeln, als sie sich an die Essenseinladung ihres Sohnes erinnert: „Das fühlte sich schon ein bisschen komisch an, aber es war auch schön — schließlich hatte Robin gewonnen.“ Olga und ihrem Mann, IT-Techniker im Außendienst, war es damals wichtig, gemeinsam darüber zu reden, wie die Familie mit dem unverhofften Geldsegen umgehen möchte.
Sie gönnen sich als Erstes einen dreitägigen Mini-Urlaub, nutzen die Auszeit, um viel zu reden, zu spielen und: durchzuatmen. „Wir waren damals müde und ausgelutscht“, erzählt Olga, „hatten harte Zeiten hinter uns. Auf einmal waren wir so entspannt.“ Sie beschließen: Wir wollen das Geld nicht sparen, sondern damit etwas machen, das bleibt. Schöne Erinnerungen schaffen, bewusster leben. „Wir haben viele Ausflüge ins Umland gemacht, sind ins Museum und in die Oper gegangen.“
Mehr Energie, mehr Gespräche — das Leben ist nicht mehr nur sichern und abliefern
Das Leben vor dem BGE fand für Olga und ihren Mann vor allem in einem Modus statt: funktionieren. Arbeiten, Haus abzahlen, die kranken Eltern versorgen, sich um die Kinder kümmern. Abliefern halt — die Kehrseite des alten bundesrepublikanischen Traums von der Kleinfamilie, die sich mit Fleiß und Disziplin ihren Teil vom Glück erarbeitet.
„Ich gucke mehr über meinen Tellerrand, rede endlich über andere Themen als Familie und Arbeit.“
Robin und seine Familie haben bis November 2015 das BGE bezogen. Was ist geblieben von dem Jahr mit Grundeinkommen, neben den schönen Erinnerungen? „Wir haben in der Zeit sehr viel Kraft und Energie getankt, auch wenn wir weiter gearbeitet haben“, sagt Olga, „und wir nehmen uns häufiger Zeit für Gespräche.“ Für sie hat sich aber noch mehr getan: Sie hat nicht mehr das Gefühl, in einem Schneckenhaus zu leben.
Olga stammt gebürtig aus Russland und kam nach der Wende ins beschauliche Schwaben. Ihr Deutsch ist perfekt, trotzdem fühlte sie sich lange gehemmt in der fremden Sprache. Die Zeit mit dem Grundeinkommen hat das verändert. Sie hat das BGE für sich als Thema entdeckt, gab schon mehrfach Interviews dazu: „Ich gucke mehr über meinen Tellerrand, rede endlich über andere Themen als Familie und Arbeit, auch über Politisches.“ Sie ist dem Jahr mit BGE „unendlich dankbar“. Olga fühlt sich lebendig.
Gerald (39), arbeitslos
In den ersten drei Monaten will Gerald die Kohle einfach nur verballern. Partys, Alkohol, Freunde einladen. „Ich habe mit dem Geld um mich geschmissen“, sagt er. Im Mai 2015 hat er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl: Ich kann mir etwas leisten. Die ersten 1000 Euro sind auf dem Konto und er kauft sich ein gebrauchtes Fahrrad. Gerald ist 38 Jahre alt und hat vorher nie ein eigenes Fahrrad besessen.
Es ist eine dieser traurigen Lebensgeschichten: Alles geht schief, was schief gehen kann — und dann kommt noch Pech dazu. Seit dem Ende seiner Ausbildung, da war er 21, steckt Gerald in der Schuldenfalle. Wegen eines Kredites, den er für seinen Vater aufgenommen hat. Der ihn ins Heim gegeben hat, als er 15 war. Er ist 38 Mal umgezogen und hat mehrere Aus- und Weiterbildungen abgeschlossen (Kommunikations- und Medien-Designer, Digitaldrucker, Textildrucker), die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr viel wert sind.
„Ich wusste nicht mehr, wohin, war fertig mit der Welt. Das Grundeinkommen hat mich gerettet.“
Seit er denken kann, rennt Gerald einem Rückstand hinterher, den er scheinbar nicht aufholen kann – egal, wie schnell er rennt, wie er sich abrackert und müht. Die Familie hat ihn im Stich gelassen, Arbeitgeber haben ihn ausgenutzt, Anwälte betrogen. Und seine eigenen Entscheidungen, die waren auch nicht immer die besten. Der Sozialstaat? Ein Netz, das einen auffängt, in dem man sich aber auch verheddern kann. Geralds Betreuerin im Jobcenter hatte ihm ein Selbstfindungs-Seminar verordnet. Danach war für ihn klar: Er möchte umlernen zum Kindererzieher. Die Betreuerin hielt das für keine gute Idee und legte ihm eine Ausbildung zum Mediendesigner nahe — die er ja schon hatte. „Warum hat eine Frau so viel Macht über mein Leben?“, fragt Gerald.
Manchmal lässt sich Menschenwürde auf der Waage messen
Die Umschulung darf er schließlich doch machen, Praktika im Kindergarten bestätigen seinen Eindruck: Er hat endlich das gefunden, was er machen möchte — und gut kann. Bei der entscheidenden Prüfung lässt ihn die Prüferin durchfallen. „Die hatte was gegen mich“, sagt Gerald. Er erhebt Einspruch, andere Dozenten bestätigen ihm, dass er die Prüfung hätte bestehen müssen. Das ganze verdammte Leben hat sich gegen ihn verschworen, so fühlt sich das an.
„Danach kommt ein dunkles Loch. Doch damit beschäftige ich mich jetzt nicht.“
Im Frühjahr 2015 ist er am Ende: „Ich wusste nicht mehr, wohin, war fertig mit der Welt. Das Grundeinkommen hat mich gerettet.“ Gerald beschließt, Sozialbetrug zu begehen. Er gibt das BGE nicht beim Jobcenter an, weil es sonst mit seinem Hartz-IV-Satz verrechnet würde. 38 Jahre lang hat er versucht, nach den Regeln zu spielen, die dafür sorgen, dass Menschen wie er selten gewinnen. Jetzt macht er die Regeln ein Mal selbst, so sieht er das.
Seit den wilden ersten BGE-Monaten nutzt Gerald das Geld zum Teil, um seine Schulden abzubauen, und zum Teil, um das Leben zu führen, für das er immer vergeblich gekämpft hat. Er kann jetzt mehr und besser essen, zum Beispiel. Gerald ist 1,98 Meter groß und wiegt bis zu 77 Kilogramm. Vor dem BGE waren es immer weniger als 70. Manchmal lässt sich Menschenwürde auf der Waage messen. Und was kommt nach dem BGE? „Ein dunkles Loch. Doch damit beschäftige ich mich jetzt nicht.“
Was haben wir also gelernt über das Leben mit Grundeinkommen?
Mehr Gelassenheit, Selbstbestimmung und Würde; ein befreiteres Lebensgefühl, bessere Ernährung und schöne Ausflüge. Wenn man den dreien zuhört, fragt man sich, warum das BGE nicht schon längst eingeführt worden ist. Keiner berichtet von negativen Effekten, alle drei würden eine Einführung unterstützen. Klingt ein bisschen zu gut, um wahr zu sein?
Klar, von drei Einzelfällen, die das BGE für ein Jahr beziehen, kann man nicht auf die Bevölkerung schließen und Sozialbetrug (der in einem Staat mit BGE in der Form nicht möglich wäre) ist natürlich nicht das Ziel. Auch die Frage der Finanzierbarkeit haben wir noch nicht diskutiert. Doch eines deutet sich in den drei Geschichten schon an: Das Argument, das BGE mache Menschen faul und antriebslos, ist zumindest in der Pauschalität anzuzweifeln.
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