Die Vorurteile über Einzelkinder sind zahlreich und halten sich hartnäckig. Doch stimmen sie wirklich? Ein Einzelkind meldet sich zu Wort.
Altklug, selbstbezogen und verwöhnt
Ich bin ein Einzelkind. Ein Geständnis, auf das ich grundsätzlich ein „aber“ folgen lassen möchte. „Aber ich habe eine Halbschwester.“ Oder: „Aber ich bin mit meinen Cousinen und Cousins, wie Geschwister aufgewachsen“. Denn sobald ich mich als Einzelkind enttarnt habe, sehe ich die Alarmglocken bei meinem Gegenüber klingeln. Plötzlich erscheine ich in seinen oder ihren Augen in einem ganz anderen Licht. Denn wie allgemein bekannt ist, sind Einzelkinder altklug, selbstbezogen, verwöhnt und sozial inkompetent. All die anderen Faktoren, wie meine soziale Umgebung, meine Freundschaften oder mein generelles jetziges Auftreten scheinen auf einmal egal zu sein. Das Stigma ist da und ist so schnell nicht mehr zu revidieren.
Doch sind wir geschwisterlosen Geschöpfe wirklich so arm dran, wie es uns die Gesellschaft weiß machen möchte? Ist es ein so großer Nachteil, nicht ständig um die Aufmerksamkeit seiner Eltern buhlen zu müssen? Oder liegen wir vielleicht sogar klar im Vorteil und es möchte einfach niemand zugeben?
Einzelkind: Eine Krankheit an sich
Um zu ergründen, woher die Vorurteile über Einzelkinder kommen, die 2014 immerhin 26 Prozent der Minderjährigen in Deutschland ausmachten, muss man zeitlich etwas zurückgehen. Vor etwa hundert Jahren nannte der Psychologe Stanley Hall Einzelkinder „eine Krankheit an sich“, zu ihm gesellte sich noch der Wiener Psychotherapeut Alfred Adler, der meinesgleichen als „Parasiten“ bezeichnete. Das lässt sich leicht mit dem Umstand verknüpfen, dass Einzelkinder zu dieser Zeit keineswegs die Norm waren. Denn wer Einzelkind war, kam meistens aus einem problematischen Elternhaus. Entweder war ein Elternteil schwer krank, verstorben oder man wurde unehelich geboren. Einzelkind zu sein, deutete damals also vor allem darauf hin, dass man es im Leben nicht sehr leicht hatte.
Zum problematischen Elternhaus, kam noch die fehlende Kinderbetreuung hinzu, die dann dazu führte, dass Einzelkinder tatsächlich kaum Kontakt zu Gleichaltrigen hatten und sehr fokussiert auf ihre Eltern waren. Der Entwicklungsforscher Hartmut Kasten sagte in einem Interview mit der „Süddeutsche Zeitung“, dass Kinder durch diese Lebensumstände, dann auch tatsächlich die ihnen vorgeworfenen „Macken“ aufwiesen.
Einzelkinder profitieren
Aber ist die viele Aufmerksamkeit wirklich schlecht? Wir Einzelkinder selbst können laut einem Artikel der „taz“ durchaus von unserer Lebenssituation profitieren. Denn wir erhalten nicht nur mehr Aufmerksamkeit, sondern auch mehr finanzielle Ressourcen. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass laut statistischem Bundesamt Kinder bis zu ihrem 18. Lebensjahr ungefähr 130.000 Euro kosten.
Dadurch hat man als Einzelkind nicht nur mehr ungeteilte Aufmerksamkeit zur Verfügung, sondern kann häufig auch mehr gefördert werden. Die persönliche Entwicklung kann in Form von Hobbys, der schulischen Förderung oder Ähnlichem gezielter unterstützt werden. Was sich laut einigen wissenschaftlichen Studien dann auch in der Sprachentwicklung, verbesserten berufliche Erfolgschancen und einer Steigerung des IQs niederschlägt. Klingt alles logisch, aber was hat das mit dem häufig genannten Narzissmus zu tun?
Mehr Kinder aus gesellschaftlichem Druck
Wie kommt es dann, dass wir im Jahr 2017 immer noch an diesen Vorurteilen festhalten? Schließlich sind unsere Lebensumstände komplett andere, Familienmodelle wesentlich flexibler und uneheliche Kinder kein gesellschaftliches Ausschlusskriterium mehr. Denn selbst wenn ein Kind ohne Geschwister aufwächst ist es in der Krippe, der Schule, der Nachmittagsbetreuung und den Sport- sowie Musikvereinen mit vielen anderen Gleichaltrigen konfrontiert. Spielgefährten werden nach Hause eingeladen und wie in meinem Fall, gibt es in der erweiterten Familie auch noch Kinder. Als Einzelkind lebt man schließlich nicht auf einer Insel.
Hartmut Kasten sagt dazu, diesmal in der „Zeit“: „Gesellschaft und Politik sind nicht bereit, sich damit zu befassen“. Denn die Vorteile der Einzelkinder wären „keine gute Werbung“ für die erwünschte Steigerung der Geburtenrate. Schließlich entscheiden sich immer noch viele Eltern aus gesellschaftlichem Druck oder für das Wohlergehen des Erstgeborenen für ein weiteres Kind. Wenn jetzt allerdings Konsens wäre, dass das Leben als Einzelkind nicht mit einem Stigma behaftet ist, wie viele Eltern würden sich dann trotzdem für mehr Kinder entscheiden? Schließlich gestaltet sich die Vereinbarung von Beruf und Kindern bereits ab dem zweiten Kind deutlich schwieriger.
Geschwister haben keinen großen Einfluss
Doch wie sieht es denn eigentlich heute mit den sozialen Fähigkeiten von Einzelkindern aus? Das lässt sich schwer verallgemeinern, aber wenn ich mich in meinem persönlichen Umfeld umschaue, stelle ich fest, dass der Faktor Geschwister gar nicht so wichtig ist. Während meiner Studienzeit habe ich in einer WG mit sechs Mitbewohnern gelebt. Und wer bereits in einer WG gewohnt hat, weiß wie gut sie sich eignen, um andere Menschen kennenzulernen, mit all ihren Macken und Marotten – und wie wichtig es ist, in dieser Wohnsituation Kompromisse einzugehen, um gut miteinander leben zu können. Ob das klappt oder nicht, hat wahrscheinlich viel mehr mit der Erziehung oder dem Charakter zu tun als damit, ob man Geschwister hat.
In meiner WG wohnten tatsächlich einige Einzelkinder und wir haben genau so gerne (oder ungerne) geteilt wie die Geschwisterkinder. Unsere sozialen Kompetenzen waren ähnlich gut oder schlecht ausgebildet, je nachdem in welcher Gemütslage man sich gerade eben so befand. Und was das Verlieren bei Gesellschaftsspielen angeht, etwas von dem gerne behauptet wird, dass Einzelkinder dies besonders schlecht könnten, habe ich festgestellt, dass die Mitbewohnerin mit den meisten Geschwistern (drei Schwestern und ein Bruder) die größten Wutausbrüche hatte.
Nur eine persönliche Beobachtung? Nein, in diesem Punkt gibt mir die Wissenschaft recht. In einem Artikel der „taz“ werden verschiedene Studien zur Einzelkind- und Geschwisterforschung zusammengefasst, die zu dem Schluss kommen, dass Brüder und Schwestern keinen so großen Einfluss haben, wie immer behauptet wurde. Einzelkinder seien außerdem beliebt, werden häufig zum Anführer gewählt und investierten mehr in ihre Sozialbeziehungen.
Es ist nicht immer alles rosig
Jetzt könnte man meinen, dass wir Einzelkinder in allen Belangen Vorteile haben. Doch wie bei allem im Leben, gibt es auch hier einen Hacken. Spätestens in der Pubertät empfinden viele Einzelkinder ihre Familiensituation als etwas erdrückend. Es gestaltet sich wesentlich schwieriger, unbemerkt später nach Hause zu kommen, als vereinbart, wenn niemand anderes im Haus ist, der auch etwas verbocken könnte. Und während in Haushalten mit mehreren Kindern ein jugendlicher Aussetzer als Lappalie abgetan wird, kann es schon mal passieren, dass deswegen in Einzelkindhaushalten eine Staatskrise ausgerufen wird.
Leider enden die unangenehmen Folgen, der fokussierten Aufmerksamkeit nicht mit den pubertären Hormonen und Wachstumsschüben. Sie verlagern sich eher, um genau zu sein auf die Körpermitte. Denn wenn man der einzige biologische Nachfolger seiner Eltern ist, hat man auch die gesamte Verantwortung der Erbgutweitergabe auf den Schultern. Ich persönlich möchte mir das Szenario, in dem ich meiner Mutter sagen würde, dass sie niemals Großmutter wird, nicht ausmalen.
Etwas, das mir allerdings noch viel mehr Sorge bereitet, obwohl es glücklicher Weise noch in ferner Zukunft liegt, ist die Pflege meiner Eltern. Denn während sich Geschwister darüber austauschen können, was die beste Möglichkeit wäre, ihren Eltern einen würdevollen Lebensabend zu gestalten, stehe ich alleine da. Scheiße, habe ich Angst davor!
Im Endeffekt sind wir alle nur Menschen
Wenn euch also das nächste jemand erzählt, dass er oder sie Einzelkind ist, versucht doch einfach mal den Menschen dahinter zu sehen, ganz ohne Vorurteile. Wir sind alle so viel mehr als das Familienmodell in dem wir aufgewachsen sind. Und egal welches Schicksal uns getroffen hat, am Ende zählt doch, was wir daraus gemacht haben.
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