Elon Musk irritierte bei Donald Trumps Amtseinführung mit einer Geste, die viele Menschen als Hitlergruß erkannten. In der darauffolgenden Debatte wurde Musks Aktion damit erklärt, dass er Autist sei. Unsere Autorin warnt vor den Konsequenzen, die ein solch unzutreffender „Erklärungsversuch“ für autistische Menschen hat.
Vergangene Woche zirkulierte im digitalen Raum ein Video, dem man kaum entkommen konnte. Egal ob in den klassischen oder den sozialen Medien – überall reckte Elon Musk, zu Gast bei Donald Trumps Amtseinführung, der Menge seinen durchgestreckten, schräg nach oben angewinkelten, rechten Arm entgegen. Solltest du zu den Menschen gehören, denen dieser Anblick erspart geblieben ist, dann ist in deinem Kopf vermutlich gerade ein Bild vom Hitlergruß entstanden – und ja, diese Assoziation hatte ich (so wie sehr viele andere Menschen) auch.
Umso mehr erschreckt mich, wie viele Beiträge im Anschluss an die Aktion erschienen sind, in denen diskutiert wurde, wie diese – von vielen Medien lediglich als „Geste“ – benannte Armbewegung zu deuten sei. Wie sehr eine solche Debatte über ein doch eindeutiges Symbol unsere Wahrnehmung verschiebt, rechte Handlungen normalisiert und welche Gefahr damit einhergeht, wird beispielsweise in diesem Beitrag gut erklärt.
Mal abgesehen davon, dass diese absurde Debatte komplett überlagert hat – und das ist eher kein Zufall – was an diesem Tag noch geschah: Donald Trumps Amtseinführung als US-Präsident und damit einhergehend die Unterzeichnung zahlreicher Dekrete, welche das Leben hunderttausender Menschen in den USA und darüber hinaus massiv verschlechtern und gefährden. Mehr dazu liest du hier.
Ein Aspekt der an sich schon haarsträubenden Debatte über Elon Musks „Geste“ hat meine mit Wut gepaarte Fassungslosigkeit dann noch weiter gesteigert. Und zwar der Versuch nicht gerade weniger Menschen, Musks Verhalten mit seiner Autismus-Spektrum-Störung (kurz: ASS) erklären oder gar entschuldigen zu wollen. Was zur Hölle?!
Gedankenakrobatik
Als „unbeholfene Geste eines autistischen Mannes, der der Menge sagt, dass sein Herz für sie schlägt“ bezeichnete beispielsweise der daraufhin viel zitierte Historiker Aaron Astor Musks „Gruß“. Und natürlich griffen Musks Anhänger*innen die verharmlosende „Erklärung“ für seine erfolgreich platzierte Dog Whistle sofort auf. Andrea Stroppa, Vertrauter von Musk und sein Sprachrohr in Italien, erklärte: „Diese Geste, die manche für einen Nazi-Gruß gehalten haben, ist einfach Elon: Er ist Autist und drückt damit das Gefühl aus: Ich möchte dir mein Herz schenken.“
Bezeichnend daran: Kurz zuvor hatte Stroppa die Geste von Musk bei X noch mit einem mittlerweile gelöschten Tweet kommentiert, in dem er schrieb: „Das Römische Reich ist zurück, angefangen mit dem römischen Gruß.“ Vermutlich wurde Stroppa anschließend darauf aufmerksam gemacht, dass der sogenannte „saluto romano“ – von Mussolini für seine faschistische Bewegung geprägt und von Hitler übernommen – in Italien verboten ist.
Es ist absurd: Musk, der auf Inklusion und Gleichberechtigung pfeift, der so vieles zum Schlechteren verändert, der hierzulande mit einer in Teilen rechtsextremen Partei wie der AfD kooperiert und dessen erklärter Feind die „Wokeness“ ist, wird nun von seinen Fans mit Verweis auf seine „neurologische Besonderheit“ verteidigt – und ja, man kann es kaum anders sagen, als teilweise unzurechnungsfähig entschuldigt. Wären „woke“ Konzepte wie Ableismus bei den Alpha Male- und Tech-Oligarchie-Bros nicht so verhasst, hätten sie sich vielleicht sogar daran bedient. Die Gedankenakrobatik, die Musks Fanboys auf sich nehmen, um nicht über ihre kognitive Dissonanz zu stolpern, ist ungeheuerlich.
Stereotype und Stigmatisierung
Ungeheuerlich sind auch die Folgen, die dieser absolut deplatzierte, falsche, unzutreffende „Erklärungsversuch“ für autistische Menschen hat. Denn seither erschienen zahlreiche schlecht recherchierte, auf veraltetem Wissen basierende Beiträge über ASS. Sie alle transportieren falsche Vorstellungen von einer sehr diversen Menschengruppe, verfestigen Stereotype und tragen zur weiteren Stigmatisierung von Autist*innen bei.
Immer wieder ist zu lesen, dass Elon Musk an Asperger (ein veralteter und aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus umstrittener Begriff) beziehungsweise Autismus „leide“ – und genau daran sieht man, wie wenig Ahnung viele vom Thema haben. Autismus ist keine Krankheit, sondern eine neurologische Entwicklungsstörung. Autistische Menschen fallen wie Menschen mit ADHS in die Kategorie der Neurodivergenz, also Menschen, deren Gehirne auf eine andere Art und Weise funktionieren als die – nach derzeitigem Wissensstand – geltende menschliche Norm. Deshalb ist auch oft von neurotypischen und neuro-atypischen Menschen die Rede.
Autismus pauschal als „Leiden“ zu bezeichnen, wertet die sehr vielfältige Lebenswelt autistischer Menschen massiv ab und verkennt, dass Leid in diesem Fall eher durch eine nicht-inklusive, lediglich auf neurotypische Menschen ausgerichtete Welt entsteht, die alle „Abweichungen“ davon marginalisiert und diskriminiert.
„Wenn du einen Autisten kennst, dann kennst du einen Autisten.“
Es gibt ein Zitat, das in der Auseinandersetzung mit Autismus oft genannt wird und sehr gut widerspiegelt, was viele Menschen verkennen, wenn sie bei Autismus lediglich an „skurrile“ Charaktere wie Sheldon Cooper, Raymond aus „Rain Man“ oder Adrian Monk denken: „Wenn du einen Autisten kennst, dann kennst du einen Autisten.“
Lies‘ den Satz gern nochmal, falls er sich dir nicht sofort erschließt.
Musks Verhalten als das benennen, was es ist
Statt Elon Musks Verhalten auf seinen Autismus zurückzuführen, sollten wir es als das benennen, was es ist und was er zu zig anderen Anlässen bereits gezeigt hat: Ein ziemlich kaputtes Weltbild gepaart mit einem offensichtlich sehr miesen Charakter. Oder wie meine wunderbare Kollegin Mona Siegers es so schön auf den Punkt brachte: „Wer sich wie ein Arschloch verhält, ist ein Arschloch – dafür braucht es keine anderen Erklärungen.“
In eine ähnliche Richtung argumentiert auch der britische Erfolgsautor, selbst Autist, Matt Haig, der das Weltgeschehen oft sehr treffend kommentiert: „Statistisch gesehen sind Nazi-Grüße häufiger ein Symptom von Nazismus (Anm. d. Red.: Kurzform des Ausdrucks Nationalsozialismus) als von Autismus.“ Seiner etwas polemischen ersten Reaktion auf Musks Geste fügt Matt Haig ernsthafter an, dass Musk seiner Meinung nach genau wisse, was er tue und solche Aktionen bewusst einsetze, um in der Weltpolitik für Chaos zu sorgen, unter anderem um Aufmerksamkeit von Donald Trump auf sich umzuleiten. „Musk ist nicht direkt heraus ein Nazi, er stellt sich vielmehr an die Seite der Bullys, egal in welcher Situation – und in einer vernünftigeren Welt sollte jemand mit seinem Temperament nicht ansatzweise in die Nähe von Macht gelangen“, schreibt Haig.
Doch Elon Musk hat als reichster Mann der Welt nun einmal genau das: enorme Macht. Genau deshalb kann er mit seinen Launen weltweit die Schlagzeilen dominieren und damit leider auch enorm viel Einfluss darauf nehmen, wie andere Menschen wahrgenommen werden. Sei es, dass von ihm auf die Gesamtheit aller autistischen Menschen geschlossen wird und er somit in der Öffentlichkeit das Bild von Autist*innen prägt. Oder auch, dass er – wie es aktuell der Fall ist – ins Geschehen rund um die Bundestagswahl am 23. Februar eingreift, indem er mit seiner Reichweite und seinem Einfluss mitbestimmt, wie so einige Menschen auf die AfD blicken.
Jemandem, der so viel Kontrolle erlangen konnte und noch mehr Kontrolle ausüben will, die Verantwortung für seine Handlungen abzusprechen, indem man sein widerliches Verhalten mit ableistischen Vorstellungen einer sehr diversen Gruppe Menschen erklärt, ist widersprüchlich und scheinheilig.
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