Was ist ein Trauma? Woran erkennt man, ob Hilfesuchende traumatisiert sind? Und wie sieht wirksame Hilfe für die Betroffenen aus? Justine Glaz-Ocik, Diplom-Psychologin, psychologische Trauerberaterin, Deeskalationsstrainerin in Fällen häuslicher Gewalt, psychologische Bedrohungsmanagerin und Systemischer Coach sowie Dozentin am Systemischen Zentrum, kennt die Antworten.
Frau Glaz-Ocik: Wie erkennt man, ob Hilfesuchende traumatisiert sind?
Justine Glaz-Ocik: Das erkennt man auf Anhieb nicht wirklich. Es kann sein, dass es dem oder der Hilfesuchenden um ganz andere Anliegen oder Probleme geht, über die gesprochen werden soll. Das können zum Beispiel Konflikte in der Familie sein, Schwierigkeiten in der Teambeziehung oder eine Lebenskrise. Geflüchtete, die eine Beratungsstelle aufsuchen, wollen einfach Fuß fassen im neuen Leben. Kurzum: Viele wissen es gar nicht, dass sie ein traumatisches Erlebnis hatten. Es gibt keine Schablone, die uns erkennen lässt: Aha, hier handelt es sich um ein Trauma!
Allerdings ergibt die Anamnese im Beratungsgespräch, dass manche Betroffene eben doch ein Trauma durchlebt haben – die Art und Weise, wie sie über Erlebnisse sprechen, machen dies deutlich.
Für Berater*innen wird es immer dann schwierig, wenn Aggressionen, tiefe Traurigkeit, mangelnde Impulskontrolle, Konzentrationsschwierigkeiten, Vermeidungsverhalten, Rückzug, depressive Symptome nicht einem konkreten Ereignis zugeordnet werden können. Manche Traumatisierte versuchen mit dem erlittenen Trauma fertigzuwerden, indem sie zu Medikamenten, Drogen oder Alkohol greifen. Suchtberatungsstellen sind voll von solchen Menschen – aber es ist nicht klar, dass das Trauma die Ursache für den Abusus ist.
Manche Traumatisierte haben eine lange Behandlungsgeschichte hinter sich: Sie leiden unter Depressionen, psychosomatischen Erkrankungen, Psychosen. Und dahinter steckt eine nicht verarbeitete, traumatische Erfahrung.
Sie sagen, es gibt keine Trauma-Schablone. Wollen wir dennoch eine Begriffsdefinition wagen?
Justine Glaz-Ocik: Psychologisch betrachtet, bedeutet Trauma die Verletzung der menschlichen Seele. Durch Verletzungen bleiben seelische Narben zurück. Ein Trauma ist ein mit Stress besetztes Ereignis von bedrohendem Ausmaß, das diejenigen, die es erlebt haben, mit Gefühlen der Ohnmacht, der Hilflosigkeit und tiefgreifender Angst zurücklässt. Das Weltverständnis der Betroffenen ist völlig durcheinander, ihr Grundvertrauen erschüttert. Sie schaffen es nicht, das Erlebte in ihre Biographie zu integrieren und als vergangen zu betrachten.
Das Trauma will verarbeitet werden, im Hier und Jetzt. Den Belasteten bewusst oder unbewusst lebt es deshalb immer wieder auf. In Form von angsteinflößenden Bildern, überwältigenden Gefühlen oder destruktiven Gedanken im Sinne von „Ich habe es nicht anders verdient, ich bin nichts wert“. Sie reagieren dann mit Vorwürfen, Wut, Ärger oder auch Autoaggression. Oder sprechen über das, was sie erlebt haben – aber ohne jede emotionale Beteiligung. Das Gehirn verdrängt die Gefühle als Schutz vor Überwältigung.
Es gibt natürlich auch den Fall, dass Menschen ein schlimmes Ereignis gut verarbeitet haben. Sie empfinden zwar Schmerz und sind traurig, aber die Erschütterung erfasst sie nicht in der Ganzheit. Die Wunde ist verheilt, auch wenn sich hin und wieder eine gewisse „Wetterfühligkeit“ zeigt.
Ein Trauma will verarbeitet werden – im Hier und Jetzt… Und wie „buddelt“ man als Berater*in/Therapeut*in das verdrängte Ereignis aus?
Justine Glaz-Ocik: Hier stellt sich zentral die Frage nach dem Auftrag! In der beraterischen Tätigkeit könnte dieser in der Stabilisierung der Klient*innen liegen: Wie schaffe ich es, mit meinen Gefühlen und Gedanken umzugehen? Wie ist Lebensqualität im Hier und Jetzt möglich? Wichtig ist eine traumasensible Haltung der Beratenden und die Erkenntnis: „Jedes Verhalten hat seinen guten Grund“ – eine systemische Herangehensweise. Der Berater/die Beraterin lernt zu verstehen, warum das Gegenüber so vergesslich ist, morgens nicht aus dem Bett kommt, es nicht schafft, wichtige Behördentermine wahrzunehmen, oder die Impulse zu kontrollieren. Auf diese Weise entsteht eine gemeinsame Basis. Und der Berater/die Beraterin kann stabilisierend wirken und Möglichkeiten aufzeigen.
Informationen in der richtigen Dosis, vorsichtige Äußerungen dazu, warum das Problem entstanden sein könnte, Aufklärung darüber, was Traumatisierung ist: Dies sind hilfreiche Interventionen. Viele der Betroffenen verstehen sich ja selbst nicht. Deshalb erleben sie die Erklärungen, dass es sich um normale Verarbeitungsmechanismen handelt, als befreiend. Erleichtert stellen sie fest: Ich bin nicht verrückt! Ganz wichtig: Das Thema des Traumas muss dafür nicht ausgegraben werden!
Die Stabilisierung der Hilfesuchenden hat also oberste Priorität.
Justine Glaz-Ocik: Richtig. Kompliziert wird es dann, wenn das Trauma nicht abgeschlossen ist, sondern über Jahre hinweg erlebt wurde. Oder wenn die Betroffenen immer noch in Kontakt mit Personen stehen, die für die Traumatisierung verantwortlich sind.
Bei Geflüchteten könnte man denken: Jetzt ist doch alles gut, sie sind in Sicherheit. So einfach ist es aber nicht! Sie machen sich Sorgen um Angehörige, die nicht mit fliehen konnten, sie empfinden Schuldgefühle. Außerdem sind sie enormem Druck ausgesetzt: Sie müssen die fremde Sprache lernen, sich in der neuen Situation zurechtfinden, sich an fremde Normen gewöhnen. All diese Faktoren wirken verstörend und sorgen für einen hohen Stresslevel. Oberste Prämisse für die Helfenden: Im Chaos Struktur schaffen!
Was können Beratungsstellen sonst noch tun, um Menschen, die Schlimmes erlebt haben, zu helfen?
Justine Glaz-Ocik: Wichtig ist es auch zu klären, was die Person von der Einrichtung erwarten darf – und umgekehrt. „Als Mensch bist Du wunderbar. Dein Verhalten ist dagegen nicht immer gut. Aggressionen dulden wir in unserer Einrichtung nicht!“ Auf diese Weise entsteht eine verbindliche Beziehung zwischen Berater*in und dem „Schützling“. Die Beratenden werden zu zentralen Bezugspersonen. Sie sind der „sichere Hafen“, bieten Hilfsräume an, wo die Betroffenen Gemeinschaft oder auch Rückzugsräume finden, um zur Ruhe zu kommen. Und sie lernen auch, ihre Gefühle zu benennen – oft ist das Erlebte so unaussprechlich, dass sie selbst keine Formulierungen finden können.
Anhand welcher Indizien lassen sich Stressreaktionen und posttraumatische Belastungsstörungen voneinander abgrenzen?
Justine Glaz-Ocik: Eine gesunde Stressreaktion ist zeitlich begrenzt. Man hat etwas Schlimmes erlebt, z.B. einen Autounfall oder man ist überfallen worden. In der Folge leidet man beispielsweise unter Wiedererleben, Überreizung oder Vermeidungsverhalten. Aber ein verständnisvolles Umfeld und gute Zuhörer helfen, über das Erlebte hinwegzukommen. Die Stressymtome klingen ab, nach 1-2 Monaten sind sie weitestgehend vorbei.
Wenn hingegen die Situation immer und immer wieder erlebt wird, man übererregt bleibt, nicht mehr schlafen kann, der Stresslevel einfach nicht runtergehen will, Flashbacks auftreten: Dann ist eine Chronifizierung eingetreten. Jede Kleinigkeit erzeugt ein massives Stresserleben, das nicht mehr so schnell abgebaut werden kann. In diesem Fall sprechen wir von einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Gibt es so etwas wie einen Erste-Hilfe-Koffer bei psychischen Traumata?
Justine Glaz-Ocik: Ja, den gibt es! Die Psychische Erste Hilfe (PEH). Sinnvoll ist es, die PEH relativ zeitnah nach einem Ereignis anzuwenden. Betroffene sollten auf keinen Fall alleine gelassen werden. Die Betreuer*innen sorgen für Information und Transparenz – sie erklären beispielsweise, dass Flash-backs eine normale Reaktion sind, sie aber nach und nach abklingen sollten. Sie bieten dem/der Betroffenen Orientierung und Gelegenheit, über das Erlebte zu sprechen. Für eine vertiefte Beratung geben sie ihnen Kontakte an die Hand – das können Adressen von Traumaambulanzen, Beratungsstellen und Psychotherapeut*innen sein. Und sie prüfen, ob die Person noch selbstständige Entscheidungen treffen kann. Falls ja, sollten sie dies tun dürfen – auf keinen Fall soll das Umfeld über ihren Kopf hinweg etwas entscheiden, nach dem Motto: „Jetzt gehen Sie erst mal in Urlaub!“. Ein Gespräch sollte ohnehin immer nur mit dem Einverständnis geschehen: Wenn es zuviel wird, dürfen die Klient*innen jederzeit abbrechen!