Gender Health Gap – Was ist das eigentlich?

Einmal Handzeichen, bitte: Wer von euch hat erst nach 2017 von Endometriose gehört? Wer kennt PMS, aber weiß nicht genau, was PMDS ist und dass es oft zur Fehldiagnose „bipolar“ führt? Für wen sind es Neuigkeiten, dass Angststörungen und Depressionen von deinem Zyklus und deinen Hormonen abhängig sein können? Und wusstest du, dass hormonelle Verhütung zu Migräne mit Aura und Sprachverständnis-Verlust führen kann? Unsere steile These: Einen dieser Fakten kanntest du bisher wahrscheinlich noch nicht. Und mal wieder ist unser patriarchales System daran schuld, genauer gesagt der Gender Health Gap. 

[Dieser Beitrag ist Teil unserer Contentkooperation mit nevernot.]

Die Probleme des Phänomens sind vielschichtig: Oberflächlich betrachtet, bedeutet der Gender Health Gap, dass sich unser Gesundheitssystem am männlichen Teil der Bevölkerung orientiert. Geht man ein wenig in die Tiefe, merkt man, dass hier diverse Aspekte aufeinandertreffen: 

Medikamente werden meist am männlichen Teil der Bevölkerung getestet

Zum einen werden die meisten Medikamente an Männern getestet, auch wenn die Statistiken zur dazugehörigen Krankheit darauf schließen lassen, dass Frauen häufiger von ihnen betroffen sind. Das Problem: Auch wenn wir gesellschaftlich nicht gerne von einer binären Welt sprechen, so sind Hormonhaushalt, Stoffwechsel und Herz-Kreislauf-System bei Männern und Frauen unterschiedlich. Dementsprechend funktionieren nicht alle zugelassenen Medikamente auch bei Frauen. Von einem Einheitsmenschen auszugehen, kann extrem gefährlich sein: In den USA wurde für das Schlafmittel Zolpidem die gleiche Dosierung für Männer und Frauen empfohlen. Frauen bauen das Medikament allerdings langsamer ab. So kam es am nächsten Tag oft zu Unfällen. 

Frauen werden oft fehldiagnostiziert

Gleichzeitig werden viele Krankheiten schlichtweg eher bei Männern als bei Frauen diagnostiziert, denn auch die Symptom-Kataloge, die Medizin-Student:innen auswendig lernen müssen, orientieren sich an Jungen und Männern. Dabei zeigen Frauen und Männer oft unterschiedliche Symptome bei der gleichen Krankheit. ADHS äußert sich bei männlichen Patienten zum Beispiel in Hyperaktivität und Stimmungsschwankungen, bei weiblichen Patientinnen hingegen mit Vergesslichkeit oder einem niedrigeren Selbstwertgefühl. 

Ärzt:innen haben oft persönliche Bias

Ein weiteres Problem sind die persönlichen Bias von Ärzt:innen: Da Frauen als emotionaler wahrgenommen werden als Männer, werden die gleichen Symptome bei Frauen oft auf psychische Ursachen geschoben – so werden einige Krankheiten bei Frauen erst viel später entdeckt als bei Männern. Die Symptome eines Herzinfarkts werden von den Frauen selbst und ihren Ärzt:innen oft auf psychische Probleme oder die Menopause geschoben. Bei sechs von elf Krebsarten muss eine Frau länger auf ihre Diagnose warten. Und die Schmerzen von Frauen, die mit chronischen Problemen zum Arzt gehen, werden von ihren Ärzt:innen eher als emotional oder eingebildet bezeichnet.

Bei Frauen werden nicht nur die Begleitschmerzen von Krankheiten unterschätzt, sondern auch die von Eingriffen. So gibt es in Großbritannien erst seit 2021 die Vorschrift Schmerzmittel anzubieten, wenn Spirale, Kette und Co. eingesetzt werden. Einer Umfrage zufolge geben 43 Prozent der befragten Personen an, die Schmerzen beim Einsetzen der Spirale würden bei einer Skala von eins bis zehn bei sieben Schmerzpunkten liegen. Eine weitere Studie besagt, dass 70 % der befragten Personen leichte bis mittelschwere Schmerzen empfunden haben und weitere 17 % starke Schmerzen. In extremen Fällen werden Frauen bei dem Eingriff sogar ohnmächtig oder entwickeln danach eine Form von Vaginismus: Dabei verkrampft sich die Beckenbodenmuskulatur so sehr, dass penetrativer Sex extreme Schmerzen bereiten kann, oder nicht mehr möglich ist. Auch hierzu gibt es noch keine ausreichende Forschung. 

„Frauenkrankheiten“ werden weniger erforscht

Denn die sogenannten „Frauenkrankheiten“ sind sehr viel schlechter erforscht, als die meisten anderen. PMS zum Beispiel ist erst seit dem Jahr 2000 als eigenständige Erkrankung eingetragen, dabei betrifft es 90 % der Menstruierenden. PMDS (die prämenstruelle, dysphorische Störung) dagegen, die umgangssprachlich gerne das „schlimmere PMS“ genannt wird, betrifft circa fünf bis zehn Prozent der Menstruierenden. Die Symptome von PMDS sind unter anderem depressive Stimmungen, Beklemmungen, Reizbarkeit, Aggressivität oder Erschöpfung. PMDS kann so heftige mentale Auswirkungen haben, dass die Krankheit oft mit einer bipolaren Störung verwechselt und so fehldiagnostiziert wird. Eine Studie von 2013 hat sogar herausgefunden, dass 20 % der betroffenen Personen Selbstmord in Betracht ziehen.

Über die zweithäufigste gynäkologische Krankheit Endometriose schreibt das Robert Koch-Institut: „Endometriose zeigt sehr unterschiedliche Verläufe, nach Schätzungen sind zwischen fünf und 15% der Frauen im bärfähigen Alter betroffen.“ Die Durchschnittsdauer bis zu einer Diagnose der Krankheit liegt bei sieben bis acht Jahren, wobei 40 Prozent der Frauen zu zehn oder mehr Gynäkolog:innen-Terminen gehen, bis sie an Spezialist:innen verwiesen werden. Diese Frauen leiden nicht nur unnötig lang unter extremen Schmerzen, sie müssen auch mit einer beeinträchtigten Fruchtbarkeit rechnen. Denn je länger Endometriose unerkannt bleibt, desto höher ist das Risiko einer Infertilität. 

Über beide Erkrankungen, ihre Ursachen, Symptome und Behandlungsweisen sind leider noch nicht viel bekannt. Hierzu fehlt die nötige Forschung. Ähnlich sieht das bei den meisten anderen gynäkologischen Krankheiten und Syndromen aus. Erst im Januar 2022 sprach der französische Präsident Emmanuel Macron das Problem in einer öffentlichen Video-Rede an „Endometriose ist kein Frauenproblem, sondern eines der Gesellschaft.“ Im gleichen Zuge kündigte er die Umsetzung eines Forschungs- und Lehrfahrplans für Frankreich an. 

Warum mentale Krankheiten oft nicht mit unserem Zyklus in Verbindung gebracht werden

Dass PMS, PMDS und Co. Auswirkungen auf unsere Psyche haben können, ist klar. Das Problem ist, dass diese selten erkannt werden, denn sie fallen aus dem Raster – genau in das schwarze Loch zwischen Gynäkologie und Psychologie. Gynäkolog:innen werden selten im Bereich der Psychologie ausgebildet und Psycholog:innen kaum im Bereich der Gynäkologie. Sich zu spezialisieren, bleibt den Ärzt:innen also selbst überlassen. Ein weiteres Problem ist, dass dieser Bereich Brachland für Forschungsgelder und -ausschreibungen ist. Er wird weder von der gynäkologischen, noch von der psychologischen Seite bezuschusst. Dabei ließen sich diverse mentale Probleme, wie Depressionen und Angstzustände, eventuell mit den richtigen Hormon-Treatments lösen. Eine dänische Studie hat herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit Depressionen zu bekommen bei Nutzer:innen der Kombinationspille um 23 Prozent und bei Nutzer:innen der Gestagen-Pille sogar um 34 Prozent höher ist, als bei Frauen, die nicht hormonell verhüteten. 

Ratespiel Zyklus

Der Gender Health Gap beeinflusst unser Leben also auf mehreren Ebenen. Das traurige Resultat: Wir werden mit unserem Körper allein gelassen. In der Schule wird zwar der Kondom-Führerschein gemacht und über Erbkrankheiten geredet, aber nicht über Hormone oder unseren Zyklus. Wir bekommen keinen Leitfaden, an den wir uns halten können oder der uns aufklärt. Auch im Erwachsenenalter sieht das leider nicht anders aus: Wir müssen selbst entdecken, herausfinden, googeln, ausprobieren und ratend von Ärzt:in zu Ärzt:in laufen. Dabei wird uns oft nicht nur Unwissenheit und Inkompetenz, sondern auch ‚Judgement’ entgegengesetzt. Deswegen wollen wir aufklären, Diskussionen anregen und den Diskurs in eure Köpfe, Lieblingsrestaurants und Wohnzimmer bringen.   

Die Quellen: 

1. Steven Meyer, Fluter (2021) “Männergrippe”
2. Lucy Cohen, Change.org (2022) “Offer better pain relief for IUD insertions and removals”
3. Alice Broster, Forbes (2021) “The Gender Health Gap Is Seriously Impacting Reproductive Healthcare, Suggests New Study”
4. Ahmed Samy et al., Fertstert.org (2019) “Evaluating different pain lowering medications during intrauterine device insertion: a systematic review and network meta-analysis”
5. Ella Glover, Refinery29 (2022) “My Cervix Went Into Shock: How Painful Coil Fittings Are Causing Vaginismus”
6. Natasha Preskey, Refinery29 (2020) “How Can We Know More About Erectile Dysfunction Than PMS?”
7. Corey E. Pilver et al., National Library of Medicine (2012) “Premenstrual Dysphoric Disorder as a correlate of suicidal ideation, plans, and attempts among a nationally representative sample”
8. Ingeborg Jahn et al., Robert Koch-Institut (2007) “Gebärmuttererkrankungen”
9. Vicky Spratt, Refinery29 (2021) “How YOU Can Help Close The Gender Health Gap”
10. Charlotte Wessel Skovlund, JAMA Psychiatry (2016) “Association of Hormonal Contraception With Depression”

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