Am 27. Oktober wurde in Thüringen gewählt. Warum geht es nun schon wieder um die sogenannten Sorgen der AfD-Wähler*innen anstatt um Verantwortung? Das fragt sich unsere Autorin Helen Hahne heute in ihrer politischen Kolumne: „Ist das euer Ernst?“.
Drei Wahlen, dreimal kein Grund zum Aufatmen
Mit der Landtagswahl in Thüringen am vergangenen Sonntag ist der „Superwahlherbst“ in Ostdeutschland zu Ende gegangen. Auch bei dieser Wahl ist das schlimmste Szenario nicht eingetreten: Die AfD ist nicht stärkste Kraft geworden. Puh – dieses Ergebnis von 23,4 Prozent allerdings tatsächlich als einen Grund zum Aufatmen zu empfinden, bleibt ein Privileg derjenigen, die von der menschenverachtenden Politik der Partei, die man vielleicht treffender als politischen Arm des Rechtsterrorismus bezeichnen sollte, nicht direkt bedroht sind.
Für alle anderen gilt: Zum dritten Mal in wenigen Wochen hat jede*r vierte Wähler*in sich für eine rechtsextreme Partei entschieden. Und dieses Mal in Thüringen mit Björn Höcke sogar für einen Spitzenkandidaten, den man gerichtlich bestätigt Faschist nennen darf. Fast 80.000 ehemalige Nicht-Wähler*innen konnte dieser für einen Gang zur Wahlurne bewegen. So viele wie sonst keine Partei. Die auf 65,6 Prozent gestiegene Wahlbeteiligung kommt also auch mit der bitteren Erkenntnis, dass die Mobilisierung von Nicht-Wähler*innen nicht automatisch Stimmen für die Demokratie bedeuten muss. Nämlich dann, wenn sie erst zu Wahl gehen, wenn sie eine Partei wählen können, die offen demokratiefeindlich agiert.
Raum für die Wutbürger*innen?
Am Tag dieser Wahl und danach wird deshalb nun wieder diskutiert, was die Sorgen und Ängste dieser Menschen sind, was die Wahlerfolge der AfD mit Ostdeutschland zu tun haben und dass ja die bedeutende Mehrheit der Wähler*innen (75 Prozent, woohoo) für die Demokratie gestimmt haben. Was gefragt wird: Muss man ihnen vielleicht noch besser zuhören? Ihrer Wut mehr Raum bieten? Ein eigenes Talkshowformat für Wutbürger*innen vielleicht? Ach nee, „Hart aber fair“ macht das ja schon sehr gut. Was aber fehlt: die Stimmen der Menschen, die auf Grund eines solchen Wahlergebnisses existenzielle Angst empfinden.
Die Menschen, die in Thüringen – aber auch in Sachsen und Brandenburg (wo mit Andreas Kalbitz ein Spitzenkandidat mit eindeutiger Neonazi-Vergangenheit 23,5 Prozent der Stimmen bekam) – die AfD gewählt haben, haben sie nicht trotz Höcke gewählt, nicht aus Protest, sondern weil die Partei sie überzeugt.
Zeit, wirklich Verantwortung zu übernehmen
Nach diesen Wahlen geht es deshalb vor allem um Verantwortung. Die Wähler*innen der AfD sollten dafür zur Verantwortung gezogen werden, dass sie wissentlich und gewollt eine rechtsextreme Partei gewählt haben. Sie sollten lernen damit zu leben, dass menschenfeindliche Diskussionen keinen Raum im öffentlichen Diskurs, in den Medien, in den demokratischen Parteien mehr finden. Sie sollten lernen damit zu leben, dass es in Zukunft verstärkt um die Perspektiven derjenigen Menschen geht, die die Politik der AfD so gerne ausgrenzen will. Wie das konkret aussehen kann? Einen Denkprozess bei diesen Menschen anzustoßen ist kurzfristig ein schwieriges, vielleicht unmögliches Unterfangen. Umso wichtiger ist es deshalb, die Menschen und Perspektiven zu stärken, die von der Politik der AfD bedroht sind.
Verantwortung übernehmen müssen auch die demokratischen Parteien. Das fängt dabei an, dass die CDU aufhören muss, Die Linke und die AfD gleichzusetzen und damit eine Hufeisentheorie zu befeuern, die vor allem den Rechtsradikalismus verharmlost und seine Opfer verhöhnt. Außerdem muss sie sich klar und deutlich dazu bekennen, nicht mit der AfD zu koalieren. Der thüringische Politiker Michael Heym hat gestern das Gegenteil getan und damit die AfD in ihrem so gefährlichen wie verlogenen Narrativ der „bürgerlichen Partei“ bestätigt. Für die Linke, die SPD, die Grünen, die FDP und die CDU bedeutet dieses Wahlergebnis aber auch, nachdem eine Regierung gebildet wurde, Verantwortung im Parlament zu übernehmen. Sich dort der AfD klar und deutlich entgegenzustellen und keine gemeinsame Sache mit ihr zu machen. Auch dann nicht, wenn es der eigenen Parteipolitik gerade zuträglich wäre.
Die Linke, die mit ihrem Spitzenkandidaten Bodo Ramelow mit 31 Prozent stärkste Kraft geworden ist, ist in der Position, eine Regierung zu bilden. Ramelow, dessen Politik und Auftreten der letzten fünf Jahre eher an einen SPD-Politiker aus den guten alten Zeiten, als die Partei noch zweistellige Ergebnisse erreichen konnte, erinnern, muss an diese Verantwortung erinnern und die beste Option finden. Ob das nun eine Koalition mit den Grünen, der SPD und der FDP, doch eine Koalition mit der CDU oder eine Minderheitsregierung sein wird, müssen dabei die Gespräche der nächsten Wochen zeigen. Durch die besondere Verfassung in Thüringen haben die Parteien dafür genug Zeit.
Bedrohte Menschen brauchen den Raum
Und Verantwortung übernehmen muss der Rest der Gesellschaft. Angefangen bei Journalist*innen und Medien, die der AfD keine offene Bühne für ihre menschenverachtende Politik und ihre verharmlosende Rhetorik mehr bieten dürfen. Wenn man sie zu Gesprächen einladen muss, dann so gut vorbereitet, dass sie sich nicht unwidersprochen als bürgerliche Partei präsentieren können, die weder rassistisch, noch antisemitisch, noch antifeministisch sei. Verantwortung übernehmen heißt, auch Expert*innen einzuladen, die das Gesagte einordnen und dekonstruieren können. Es bedeutet, Menschen viel öfter einen Raum zu geben, die von der Politik der AfD bedroht sind. Ihre Geschichten zu erzählen oder sie sie selbst erzählen zu lassen. Aber auch die Zivilgesellschaft muss diese Verantwortung übernehmen. Nicht mehr wegschauen, wenn in der U-Bahn Menschen rassistisch bedroht werden. Nicht mehr weghören, wenn Menschen über ihre Diskriminierungserfahrungen sprechen. Nicht nur die Quote in Aufsichtsräten fordern, sondern intersektionale Kämpfe unterstützen. Antisemitismus und Rassismus benennen, wann immer sie stattfinden.
Verantwortung dafür übernehmen, dass Bäume, die an Mordopfer rechten Terrors erinnern, in Deutschland nicht abgesägt werden. Menschen, die von Rechtsextremen, bedroht, verprügelt werden, und Angehörigen von Menschen, die von Rechtsextremen ermordet wurden, glauben. Und bei Studierendenprotesten wie gegen den Mann, der die AfD gegründet hat, vielleicht endlich nicht mehr fragen, ob die Meinungsfreiheit dadurch bedroht ist, sondern ob solche Menschen wirklich an unseren Universitäten unterrichten müssen. Der Faschismus war nie weg in Deutschland, umso wichtiger, dass wir endlich Verantwortung übernehmen.