Derzeit wachsen schätzungsweise 2 Millionen Kinder mit nur einem Elternteil auf. Der häufigste Grund für das Aufwachsen mit nur einem Elternteil, ist die Scheidung der Eltern. Wie viele Kinder als Halbwaise oder sogar Vollwaise aufwachsen, ist nicht statistisch erfasst. Der Tod eines Elternteils ist, gerade für Kinder und Jugendliche, ein einschneidendes Erlebnis. Eine Geschichte über eine mittlerweile Erwachsene Waise.
Es ist der 20. Dezember 2005. Der Tannenbaum steht im Wohnzimmer, die Kugeln leuchten in der Lichterkette, dass ganze Zimmer strahlt und draußen fällt ein wenig Schnee. Aber meine beiden Geschwister und ich sind nicht in Weihnachtsstimmung. Und auch meine Mutter nicht. Es ist still in unserer Wohnung und wenn wir doch einmal sprechen, dann sind unsere Stimmen so leise, als würde neben uns ein Kind schlafen, welches wir nicht wecken wollen. Vor zwei Tagen wurde unser Vater ins Krankenhaus eingeliefert. Ich weiß, dass die Ärzte sich gut um Papa kümmern, sie haben ihm eine Wärmedecke gegeben, weil ihm so kalt ist, und versuchen das ganze Blut in seinem Bauchraum zu stoppen.
Es ist 13:34 Uhr und das Telefon klingelt. Meine Mutter nimmt ab.
Ich sitze im Auto, liege auf dem Schoß einer Freundin meiner Schwester und weine. Ich weine auch noch, als wir den Vorraum der Intensivstation betreten und ein Arzt meine Geschwister und mich bemitleidend ansieht. Die Tage danach schlafen meine Geschwister und ich oft in einem Zimmer, wir können und wollen nicht allein sein. Wir versuchen meine Mutter zu überreden uns einen Hund zu kaufen. Sie sagt nein.
Zwölf Jahre später habe ich mich fast daran gewöhnt, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Im Dezember ist meine Stimmung immer ein wenig betrübt, aber das ist ok. Mein Vater kommt nicht mehr zurück, egal wie sehr ich es mir oft in den letzten zwölf Jahren gewünscht habe. Jeder Halbwaise, der sagt, es fehle ihm an nichts, der lügt schlicht und einfach. Es fehlt immer etwas und es wird immer etwas fehlen. Das ganze Leben lang.
Du erzählst immer nur von deiner Mutter
Jede Person die ich bisher traf, die ich treffe, jede Person, mit der eine Freundschaft aufbaue oder mehr, sagt irgendwann diesen einen Satz, diesen Satz, der mich daran erinnert, dass ich, anders als viele andere, keinen Vater mehr habe. Du erzählst immer nur von deiner Mutter. “Was ist eigentlich mit deinem Vater?”. Im Laufe der Jahre haben sich für mich drei Antwortmöglichkeiten herauskristallisiert. “Keine Ahnung, ich kann ja mal im Himmel anrufen und fragen, was er so macht” oder “Mit dem ist gar nichts, der schwebt auf irgendeiner Wolke” oder, wenn es dir Vertrautheit und zwischenmenschliche Ebene zulässt, “Der hat sich totgesoffen”. Die Reaktionen sind genau so unterschiedlich wie die Sätze, die ich den Menschen entgegen bringe. Manche sind verlegen, manche überrascht, manche ganz rational. Einige stellen Fragen, die Allermeisten nicht. Ich merke schnell, ob mein Gegenüber mit der Information umgehen kann, die er gerade erhalten hat. Wenn nicht, wird es auch für mich unangenehm. “Ist schon ok”, sage ich dann meistens. “Oh, tut mir leid!” ist der Klassiker unter den Beileidsbekundung. Ab da wird es dann schwierig. “Ich tue dir leid? Warum?”, ist mein erster Gedanke. “Es gibt Schlimmeres im Leben” mein Zweiter. Du kannst eine Situation nicht nachempfinden, in der du nie selbst warst, heißt es oft. Auch ich denke, dass in dieser Behaupt eine ganze Menge Wahrheit steckt. Aber jeder Mensch geht anders mit dem Tod um und genau dort liegt der springende Punkt.
Viele, die nicht selbst ein Elternteil verloren haben, können sich nicht vorstellen, was es Schlimmeres geben kann, als wenn der Vater oder die Mutter stirbt. Mein Ex-Freund hat mal gesagt, wäre ein Elternteil bon ihm verstorben, hätte er sich schon längst von der Brücke gestürzt. Ich war entsetzt, über diesen Satz und seine Denkweise über den Tod. Ich habe mit circa elf Jahren angefangen mich selbst zu verletzen und ja ich hatte auch Selbstmordgedanken. Das lag aber nicht einzig und allein an der Tatsache, dass mein Vater verstorben war. Das Leben geht weiter, auch mit nur einem Elternteil.
“Mama, alle in meiner Klasse haben einen Papa. Nur ich nicht”
Wie oft im Laufe eines Gesprächs das Wort “Eltern” fällt wird dir erst bewusst, wenn du selbst keine Eltern mehr hast, sondern eben nur noch ein Elternteil oder sogar gar keine Eltern mehr. “Und was machen deine Eltern so?” oder “und was sagen deine Eltern dazu?”. Da sträuben sich bei mir die Nackenhaare. Früher war ich jedesmal tagelang traurig, wenn das Wort Eltern fiel. Heute ist es nur noch ein Ziepen in der Magengegend. “Sag bitte nicht Eltern, ich habe keine Eltern. Ich habe eine Mama.” sage ich dann oft zu meinem Gesprächspartner. Dass ich darauf Hinweise, finde ich absolut nicht komisch, ich fühle mich dabei auch nicht unbehaglich. Bei dem Wort “Eltern” allerdings schon.
Es gibt viele Momente, in denen ich meinen Vater vermisse und es wird noch viele Momente in meinem Leben geben, in denen ich meinen Vater vermissen werde. Manchmal denke ich darüber nach, wer mich irgendwann einmal zum Traualtar führen wird. Vor einige Wochen bin ich in meine erste eigene Wohnung gezogen. Mein Vater fehlt mich am stärksten, wenn ich einen Lebensabschnitt hinter mir lasse oder einen Neuen beginne. Ich frage mich selten, wie mein Leben heute wäre, würde mein Vater noch leben. Aber ich frage mich häufig, was mein Vater jetzt sagen oder tun würde. Durch die Krankheit meines Vater war mit ihm nicht immer ein normaler Umgang möglich, aber trotz allem war er eine zentrale Bezugsperson in meinem Leben. Eine, die mir gerade in der Pubertät und beim Heranwachsen gefehlt hat und fehlt. Es gibt Situationen, in denen ich mich aufgrund des fehlenden Elternteils sehr unwohl fühle. Als ich auf der Handelsschule war, gab es beispielsweise niemanden in meiner Klasse, der mit nur einem Elternteil aufwuchs. Obwohl mein Vater zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre tot war bin ich weinend zu meiner Mutter gegangen und schluchzte: “Mama, alle in meiner Klasse haben einen Papa. Nur ich nicht”. Das war schlimm für mich, weil mir mein Verlust so schlagartig bewusst wurde.
Vermutlich hätte ich mich anders entwickelt, würde mein Vater noch leben. Vielleicht aber auch nicht. Wer weiß das schon? Als, zumindest körperlich, erwachsene Frau wird mir aber bewusst, dass es vollkommen irrelevant ist, welche Art von Bezugsperson deine Entwicklung unterstützt. Essenziell ist es, dass es überhaupt Menschen gibt, die das tun. Kein Mensch dieser Welt kann einen verstorbenen Elternteil ersetzen. Aber jeder Mensch dieser Welt kann dir Gefühle vermitteln, kann dich lieben, beschützen und dir Geborgenheit schenken. Ob das der Papa, die Tante, die Oma oder jemand ganz anderes ist, ist zweitrangig.