Aminata Touré ist zurzeit die jüngste Abgeordnete im Landtag Schleswig-Holstein und setzt sich für Geflüchtete, Frauen und Minderheiten ein. Wir haben uns mit ihr zum Interview getroffen.
„Ich musste irgendetwas machen“
Seit 2017 ist Aminata Touré Landtagsabgeordnete der Grünen Jugend in Schleswig-Holstein. Mit 25 Jahren ist sie nicht nur das jüngste Mitglied, sie ist auch die erste Schwarze Frau. Aminatas Eltern stammen ursprünglich aus Mali und sind als Geflüchtete nach Deutschland gekommen, geboren und aufgewachsen ist sie jedoch in Neumünster. Nicht immer eine leichte Zeit, wie sie im Gespräch erzählt. Ihre eigene Geschichte und Erziehung haben sie dazu motiviert sich der Politik zu widmen, um wirklich etwas zu verändern. Vor allem jetzt in Zeiten, wo es so scheint, als ob Alltagsrassismus salonfähig geworden ist und ein allgemeines Misstrauen gegenüber allem was vermeintlich „fremd“ ist, herrscht. Deshalb setzt Aminata ihre politischen Schwerpunkte bei Flucht und Migration, der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern sowie der Gleichstellung von Minderheiten. Aminata hat eine Mission. Sie will „das Sprachrohr für jene sein, die sich klar zu einer diversen und gerechten Gesellschaft bekennen“.
Wir haben sie zum Interview getroffen, bei dem sie von ihrer eigenen Familiengeschichte, welche Politik sie machen möchte, wie sie mit der AfD im Landtag umgeht und warum es so wichtig ist, dass unsere Parlamente vielfältiger und diverser werden, erzählt hat.
***In eigener Sache: Aminata Touré wird auch als Speakerin beim FEMALE FUTURE FORCE DAY am 12. Oktober 2019 dabei sein. Die limitierten Early-Bird-Tickets für 159 Euro gibt es so lange der Vorrat reicht! Ihr wollt auch in Berlin dabei sein? Dann findet ihr hier das Programm und alle Infos zum DAY.
Wie bist du zur Politik gekommen und warum hast du dich damals für die Grünen entschieden?
„Ich war schon, bevor ich zu den Grünen gekommen bin, stark politisch engagiert. Im Abiturjahr war ich Schulsprecherin und während meines Studiums der Politikwissenschaften und der französischen Philologie, habe ich nebenbei auch bei der Fachschaft mitgearbeitet. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich könnte noch mehr tun. Nach meinem ersten Semester habe ich dann beim Flüchtlingsbeauftragten des Landes Schleswig-Holstein ein Praktikum gemacht. Dort habe ich gemerkt, wie gravierend die Situation für Geflüchtete, die nach Deutschland kommen, immer noch ist. Ich selbst wollte mit dem Thema eigentlich nichts mehr zu tun haben.
Als ich zwölf Jahre alt war, haben meine Familie und ich die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Allein das Wort ‚Ausländerbehörden’ wollte ich in meinem Leben nicht wieder hören. Aber ich konnte das Gefühl auch nicht abschütteln, dass ich irgendetwas machen musste. Ich habe mir dann von allen Parteien die Programme angeguckt und die Grünen waren zu dem Zeitpunkt, 2011, die einzigen, die Asylpolitik wirklich zum Thema gemacht haben. Sie haben am ehesten zu meinem Leben und meiner eigenen politischen Haltung gepasst.“
Und wie kam es, dass du für den Landtag kandidiert hast?
„Ich war zuerst lange Zeit Sprecherin für die Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht. Während meines letzten Studienjahres habe ich dann schon angefangen für Luise Amtsberg zu arbeiten, die flüchtlingspolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, und bin für eine Weile nach Berlin gezogen. Parallel zur Arbeit habe ich dort meinen Bachelor fertig gemacht. Das war 2015/16 in der Zeit, als das Thema Flüchtlingspolitik überall in Deutschland sehr präsent war. Ab 2016 war ich auch im Landesvorstand der Grünen in Schleswig Holstein, habe aber noch in Berlin gewohnt und bin hin und her gependelt. Als die Listenwahl anstand, habe ich lange überlegt, ob ich das machen will oder nicht – und hab mich letztendlich dann dafür entschieden. Zum einen, weil rechte Parteien auf den Vormarsch waren und zum anderen, weil das Thema Flüchtlingspolitik für mich natürlich eine besondere Bedeutung hat.“
Du bist hier geboren, aber deine Eltern sind vor 25 Jahren als Flüchtlinge aus Mali nach Deutschland gekommen. Die ersten zwölf Jahre wusstet ihr nicht, ob ihr überhaupt im Land bleiben könnt. Kannst du dich an diese unsichere Zeit zurückerinnern?
„Ja, auf jeden Fall. Meine gesamte Kindheit war davon geprägt, bis ich in die achte Klasse gekommen bin. Von daher sind die Erinnerung noch sehr lebendig. Eine meiner Schwestern und ich durften damals zum Beispiel nicht den Kindergarten besuchen. Daran erinnert man sich natürlich, wenn alle anderen Kinder in deinem Alter hingehen dürfen und du davon ausgeschlossen wirst. Als wir in unsere erste, eigene, richtige Wohnung gezogen sind, habe ich auch erst gemerkt, dass es zum Beispiel gar nicht so normal ist, in Gemeinschaftsduschen zu duschen.
Wir haben die ersten fünf Jahre mit meiner Familie in einer Gemeinschaftsunterkunft zusammengelebt. Ich bin dort geboren und auch groß geworden. Es war für mich Normalität. Wir wurden über Jahre hinweg immer wieder geduldet und irgendwann, als ich zwölf Jahre alt war, haben wir die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen und durften endlich offiziell hier bleiben. Vorher war es eine konstante Ungewissheit, weil wir immer das Gefühl im Hinterkopf hatten „vielleicht müssen wir bald nach Mali „zurück“. „Zurück“ in Anführungszeichen, weil ich das Land ja gar nicht kannte.“
Du befasst dich bei den Grünen auch mit der Gleichstellung von Frauen und Männern. Warum hast du hier einen weiteren Schwerpunkt gelegt?
„Gleichberechtigung war für mich immer ein Thema. Ich bin von meiner Mutter so erzogen worden, dass ich weiß, dass ich genauso viel wert bin, wie jeder Mann. Zu Hause war das also klar, aber in der realen Welt bin ich immer wieder damit konfrontiert worden, dass es keine faktische Gleichstellung gibt. Gemerkt habe ich das etwa daran, dass mir häufig Dinge nicht zugetraut wurden. Das mag einerseits damit zu tun gehabt haben, dass ich eine Frau bin, aber auch, dass ich Schwarz bin, spielt eine Rolle.
Ich habe mich mit dem Thema also viel auseinandergesetzt. Ganz oft immer erst persönlich, biografisch, und erst später grundsätzlich, strukturell. Im Laufe meines Studiums habe ich mich noch weiter damit beschäftigt und meine Abschlussarbeit zum „Schwarzen Feminismus in Deutschland“ geschrieben. Ich habe mir die Frage gestellt, inwiefern der Feminismus, den wir in Deutschland kennen, teilweise auch exkludierend ist und welche Gruppen nicht mitbedacht werden.“
Alle drei Monate veranstaltest du einen Jour fixe Frauen, eine Diskussionsrunde, bei der Frauen mit anderen Frauen über verschiedene Themen debattieren und sich austauschen. Zum letzten Treffen kamen auch frauenpolitische Sprecherinnen der CDU und der FDP. Warum ist es für dich wichtig, den Dialog mit Frauen auch über die Parteigrenzen hinaus zu führen?
„Zum Jour fixe können alle Frauen vorbeikommen, ob Politikerin oder Privatperson. Wir müssen uns mit dem Problem auseinandersetzen, dass in Schleswig-Holstein, nur noch 30 Prozent der Parlamentarierinnen Frauen sind. Da das sowieso mein Thema ist, war es wichtig für mich, in dieser Legislaturperiode diesen Schwerpunkt zu setzen und deutlich zu machen: Wir müssen als Frauen zusammen für etwas kämpfen und streiten und das über die Parteigrenzen hinweg. Vor allem, weil diese Themen auch über parteiliche Zugehörigkeiten hinaus relevant sind.“
Unserer Generation wird oft vorgehalten, sie sei unpolitisch. Wie glaubst du, können junge Menschen motiviert werden, sich mehr mit Politik zu beschäftigen?
„Das ist der schwachsinnigste Vorwurf, den man uns machen kann. Politisch sein, das bedeutet nicht mehr unbedingt sich abends zu irgendeinem Ortsverband zu setzen und da dann Gespräche im kleinen Kreis zu führen. Die Notwendigkeit besteht doch gar nicht mehr. Politik findet heutzutage viel online statt. Natürlich ersetzt die Auseinandersetzung im Netz nicht komplett den realen Austausch, aber es ist eine neue Form der Kommunikation entstanden, die uns eine andere Plattform bietet.“
„Wir sind nicht unpolitischer als Generationen vor uns, wir benutzen nur andere Kanäle, um uns auszudrücken.“
Auch bei der letzten Bundestagswahl ist leider wieder aufgefallen, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund nicht von ihrem Recht, zu wählen, Gebrauch machen. Das lässt sich bis auf die kommunale Ebene zurückverfolgen. Warum glaubst du ist das so? Und welche Lösungsansätze schlägst du vor?
„Ich glaube, es ist immer schwierig das zu pauschalisieren. Die fehlende Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund kann mehrere Gründe haben. Erst einmal, darf man überhaupt wählen? Wächst man in einem Haushalt auf, in dem die Politik einem nahe gebracht wird? Setzt man sich mit der hiesigen Gesellschaft mehr auseinander, als mit der, aus der man ursprünglich kommt? Es gibt nicht wirklich eine Antwort auf diese Frage. Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass wir in Deutschland ein grundsätzliches Problem damit haben, Wähler und Wählerinnen zu mobilisieren. Das kann man nicht nur an Menschen mit Migrationshintergrund festmachen. Die Zahl ist trotzdem hoch und man muss sich die Frage stellen: Woran liegt das? Bei Demokratietagen, die wir hier in Kiel veranstalten, gehen wir auch an öffentliche Schulen. Ich stelle dann bei den Diskussionsrunden mit den Schülern und Schülerinnen, von denen viele auch einen Migrationshintergrund haben, am Anfang die Frage: „Fühlst du dich deutsch?“ oder „Was bedeutet für dich deutsch sein?“ Am erschreckendsten finde ich die Antwort: „Ich fühl mich nicht deutsch, weil die Leute mir das absprechen.
‘Wenn du dich einem Land nicht zugehörig fühlst dann siehst du auch keinen Sinn darin, dort zu wählen.’
Auf der anderen Seite kenne ich sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem Geflüchtete, für die es etwas ganz Besonderes ist, ein Privileg, zu wählen. Weil sie sich an die ersten Jahre zurück erinnern, in denen sie in Deutschland gelebt haben, aber ihnen und ihren Eltern das Recht zu wählen verwehrt geblieben ist. Jemand aus einer Kriegsregion oder einem desolaten Staat, der zu uns kommt, schätzt dieses Privileg sehr. Dazu würde ich mich selbst und meine Familie auch zählen. Uns wurde immer beigebracht, dass Demokratie etwas sehr Wertvolles ist und dass es sich lohnt dafür zu kämpfen. Ich glaube, es ist wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass Demokratie nicht umsonst ist und da macht es keinen Unterschied, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.“
Die Stimmung in Deutschland ist in den letzten Monaten spürbar nach rechts gerückt. Der Einzug der AfD in den Bundestag ist da nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt vermehrt Angriffe auf Flüchtlingsheime und Alltagsrassismus ist inzwischen wieder salonfähig geworden. Was geht in dir vor, wenn du die Stimmung im Land beobachtest?
„Ich merke das in Schleswig-Holstein und in unserem Landesparlament, wo die AfD 2017 auch das erste Mal eingezogen ist. Wir haben es hier geschafft, sie relativ klein zu halten. Mit 5,9 Prozent sind sie bei uns längst nicht so stark wie in anderen Parlamenten. Das hat aber auch viel mit Schleswig-Holstein, der eigenen Geschichte und der Art und Weise, wie man hier Politik macht, zu tun.
In der Zeit, in der ich in Berlin gearbeitet habe, haben wir immer Schleswig-Holstein als Vorzeigebundesland für Asylpolitik hochgehalten.
Derzeit wird Stimmung stark von rechten Parolen dominiert. Ich würde mir wünschen, auch für die nächsten Monate und Jahre, dass man sich nicht so sehr darauf fokussiert, was permanent von rechts kommt, sondern dass man deutlich macht, wie viele Stimmen es abseits dessen noch gibt. Ich meine damit nicht, dass man sich nicht damit auseinandersetzen sollte – aber wenn ich ein Gefühl nicht habe, dann, dass rechte Ideologien in den letzten zwei Jahren zu wenig thematisiert worden sind. Ich will das Sprachrohr derer sein, die sich klar zu einer weltoffenen, diversen, gerechten, gleichberechtigten Gesellschaft bekennen. Davon gibt es ziemlich viele und sie haben es verdient nicht im Geschrei der Rechten unter zu gehen.“
Das sagst du auch in deiner letzten Rede im Landtag zum Afd- Abgeordneten Claus Schaffer:„ Ich bin es wirklich leid, mich mit ihren rechtspopulistischen Anträgen auseinanderzusetzen, die Sie hier einbringen. Die nächsten fünf Jahre werde ich mich zu jedem ihrer Anträge, die aus tiefster Verachtung gegenüber Menschen anderen Hintergrunds rühren, äußern müssen und ich wünschte, ich müsste es nicht.” Wie hast du den Einzug der Afd in den Landtag miterlebt? Und wie kannst du dir den Aufstieg der AfD erklären?
„Ich glaube, was wir verklären, ist, dass es diesen latenten alltagsrassistischen Spirit, für den die AfD steht, schon immer gab. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir uns zu wenig mit der deutschen Geschichte in Bezug auf das Thema auseinandersetzen. Welche Rolle spielt das Thema Rassismus denn überhaupt in Schulen, in öffentlichen Institutionen? So etwas ensteht ja nicht von einem Tag auf den anderen und ich glaube, dass wir das ganze Problem unterschätzen, wenn wir das jetzt nur auf diese rechte Partei verkürzen.
Das würde ja bedeuten, dass es bei uns in Deutschland einmalig ist und dass das in anderen europäischen Ländern oder in der westlichen Hemisphäre nicht passiert. Wie wir wissen, stimmt das einfach nicht. Diese Frage ist nicht mit einer Antwort zu beantworten. Einerseits geht es um sozialpolitische Fragen, weil Menschen unzufrieden sind und sie das Gefühl haben, dass Politik gegen und nicht für sie gemacht wird. In so einer aufgeladenen Stimmung, ist es absolut leicht als Rattenfänger-Partei, wie die AfD eine ist, Menschen hinter sich zu mobilisieren. Es gibt aber auch noch die andere Gruppe von Menschen, die einfach ein rassistisches Gedankengut haben. Das darf man auch nicht kleinreden und man muss sich natürlich die Frage stellen, wie man das ändern kann.
‘Ich glaube, dass wir uns die Diskussion um die AfD zu leicht machen, wenn wir sie nur auf die Flüchtlingspolitik verkürzen.’
Mehr noch, wir machen das Problem damit schlimmer, weil es dann so wirkt, als wären Geflüchtete der Grund allen Übels und bevor – wann auch immer das gewesen sein soll – es Migration gab, war alles super.“
Die Gleichstellung von Frauen und Männern hat bei den Jamaika- Sondierungsgesprächen keine allzu große Rolle gespielt. Und es scheint auch bei den Gesprächen zwischen SPD und CDU/CSU nicht wirklich auf der Agenda zu stehen, trotz Frau als Kanzlerin. Warum hat das Thema keinen höheren Stellenwert?
„Das Argument „Wir haben doch eine Frau als Kanzlerin“, das von der CDU oft angeführt wird, um ein Bild von einer gleichgestellten Gesellschaft zu propagieren, ist total beknackt. Nur weil du eine Frau bist, heißt das noch lange nicht, dass du auch für Gleichstellung kämpfst. Es verklärt die Ziele und Errungenschaften von Frauen, die sich wirklich für eine gleichgestellte Zukunft einsetzen und feministisch denken und handeln.
‘Es geht nicht nur darum, dass man selbst vorankommt. Sondern, dass man dafür kämpft, dass andere Frauen auch davon profitieren. Für mich ist das gelebter Feminismus: Gemeinsam solidarisch für ein Ziel kämpfen.’
Es wundert mich überhaupt nicht, dass diese Frage nach Gleichstellung keine Rolle spielt, bei der Sondierung von SPD und CDU/CSU zum Beispiel. Man muss sich immer anschauen: Wer sitzt und wer entscheidet da? Wenn wenige Frauen und wenig Personen, die an Gleichberechtigung interessiert sind, an der Diskussion beteiligt sind, werden frauenpolitische Interessen auch nicht zum Thema gemacht. Als Politikerin oder Politiker setzt man selbst die Agenda und wenn dafür ein Thema nicht wichtig ist, dann wird man es nicht besprechen. Ich glaube, bei uns Grünen spielen diese Themen immer eine Rolle, weil wir uns mit diesen Fragen regelmäßig auseinander setzen und wir da auch nicht locker lassen. Es ist aber auch bei uns nicht so, als wäre das ein Selbstläufer.
Hinzu kommt, dass Männer oft die Furcht haben, dass ihnen etwas weggenommen wird. Wenn man eine vollkommene Gleichstellung durchsetzen würde, würden natürlich auch viele Männer Privilegien verlieren.
Ich sehe es als meine politische Aufgabe immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass die Realitäten für Frauen, aber auch für Minderheiten, Trans-oder Intermenschen eben eine andere ist als für Menschen, die der sogenannten Norm oder Mehrheit entsprechen. Wir alle bilden aber auch diese Gesellschaft und haben es verdient, dass wir berücksichtigt werden, dass wir mitentscheiden dürfen.“
Die Grünen sind in den Jamaika-Verhandlungen stark in die Kritik geraten. Vor allem aufgrund ihrer Kompromisse in der Flüchtlingspolitik. Wie ist dein persönliches Empfinden dazu? Glaubst du, die Grünen haben durch die Sondierungsgespräche an Glaubwürdigkeit verloren?
„Ich habe das im Gespräch ehrlich gesagt nicht so oft mitbekommen, dass Menschen wütend waren, weil wir bereit waren Kompromisse einzugehen. Eher, dass man es teilweise sehr krass und überzogen von CDU/CSU fand beim Familiennachzug so unnachgiebig zu sein. Ich war selbst Teil der Koalitionsverhandlungen in Schleswig- Holstein, als Verhandlerin der Grünen auf Landesebene. Es war sehr beeindruckend zu sehen, wie Politik real in Koalitionsverhandlungen stattfindet. Natürlich muss man bereit sein Kompromisse zu machen. Man geht immer mit der überzeugten Vorstellung hinein in den Wahlkampf, dass man als Partei so viele Menschen überzeugt, dass man Eins-zu-eins alles umsetzen kann. Natürlich sieht die Realität anders aus und man ist gezwungen Koalitionen und damit auch Kompromisse einzugehen. Das musst du dann vor deiner eigenen Partei, aber auch bei deinen Wählerinnen und Wählern, rechtfertigen. Alle Parteien müssen das tun.
‘In der Realität ist man gezwungen, Koalitionen und damit auch Kompromisse einzugehen.’
So funktioniert nun einmal eine Demokratie und ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass Menschen nachvollziehen können, dass man Kompromisse eingehen muss. Auf die Sondierung in Berlin bezogen, habe ich das Gefühl, dass viele gesehen haben, dass wir bereit waren uns der Verantwortung zu stellen. Man muss aber auch sagen, dass das Ganze natürlich nicht zu Ende gedacht war. Schließlich wurden wir ja mitten in den Gesprächen unterbrochen.“
Du bist nicht nur die jüngste Landtagsabgeordnete, sondern auch die erste Schwarze Frau im Landtag. Ein Umstand, mit dem nicht alle Menschen glücklich sind. Wie reagierst du auf rassistische Anfeindungen?
„Eigentlich ignoriere ich das in der Regel, weil ich das ermüdend finde und ich viel mehr positiven Zuspruch bekomme. Das ist für mich der Antrieb für meine Arbeit. Es bremst einen, wenn man darüber nachdenkt, dass Leute einen nicht dasitzen haben wollen, aber ich habe mich ja nicht in meine Position „reingeputscht“, sondern das hat demokratische Prozesse durchlaufen und nun stehe ich legitimerweise da, wo ich bin. Rassistische Angriffe kenne ich, seitdem ich lebe. Ich versuche das soweit es geht zu umschiffen und mir zu sagen, ich habe ein Recht hier zu sitzen. Genau deshalb mach ich das ja.
Es gibt bundesweit vier oder fünf Schwarze Mandatsträgerinnen auf Landes- und Bundesebene und sowieso extrem wenig Menschen mit Migrationshintergrund. Das sind die Orte an denen die wichtigsten Entscheidungen für die Gesellschaft getroffen werden und deshalb muss die Gesellschaft bei diesen Gesprächen auch breit vertreten sein. Bei den Diskussionsrunden, die wir manchmal veranstalten, kommt es nicht selten vor, dass Menschen mit Migrationshintergrund auf mich zukommen und sagen: Da ist jemand, der sieht so aus wie ich und die kann das, also kann ich das auch machen. Diese positive Wirkung, die ich bei anderen Menschen entfalten kann, ist etwas, worüber ich viel mehr nachdenke, als über irgendwelche negativen Kommentare.“
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