Ist es nicht so, dass wir in einem Land der Chancengleichheit leben? Dass prinzipiell jede*r die Chance auf eine gute Bildung hat? Sandra Siehl erklärt, warum nicht alle Kinder die gleichen Startchancen haben.
Wie entstehen gerechte Chancen?
In Deutschland müssen ausnahmslos alle Kinder die Schule besuchen, sie haben einen rechtlichen Anspruch auf Bildung. Unsere Gesellschaft setzt große Hoffnungen in formale Bildung: Bildung als Schlüssel für eine gelungene und erfolgreiche Zukunft. Bildung entscheidet, wohin die Reise eines Menschen geht. Doch entstehen über den Zugang zu Bildung gleiche und gerechte Chancen?
Es ist am Ende der Schulzeit nicht egal, ob ein*e Jugendliche*r einen Hauptschulabschluss oder das Abitur hat. Bildungsabschlüsse tragen dazu bei, ob Menschen die Chance haben, sich eine Arbeit zu wählen, die Freude bereitet, die ihren Interessen und Neigungen entspricht und die ihnen womöglich einen sicheren und festen Arbeitsplatz bietet. Ob die Arbeit eher unsicher und prekär ist, weil man eben nicht auswählen kann, weil man bestimmte Jobs annehmen muss, um überleben zu können. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang außerdem die gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe.
Wer ist gesellschaftlich integriert und wer nicht?
Gesellschaftlich integriert sind – überspitzt gesagt – diejenigen, die es sich auch leisten können. Armut wirkt gesellschaftlich ausgrenzend. Menschen, die von Armut bedroht sind oder bereits in Armut leben, können es sich schlicht weg nicht leisten, im vollen Umfang am gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Leben teilzunehmen.
Aber Moment! Ist es nicht so, dass wir in einem Sozialstaat leben und jeder Mensch sozial abgesichert ist, auch zum Beispiel durch Hartz IV? Sollten wir nicht dankbar sein, dass wir ein solches Sozialsystem haben?
Ja, wir leben in einem Sozialstaat und es stimmt auch, dass wir durch das Hartz IV-System „aufgefangen“ werden. Was es jedoch bedeutet Hartz IV zu beziehen, wie es sich anfühlt, im Jobcenter einen Antrag stellen zu müssen, das eigene Leben offen auf den Tisch zu legen, um das Existenzminimum (!) zu beziehen, ist den allermeisten nicht bewusst. Wie es sich tatsächlich anfühlt, das wissen nur jene, die es selbst erleben.
Der Zusammenhang von Armut und Bildung
Nun könnte man fragen: Was hat denn Hartz IV mit Bildung und Chancengleichheit zu tun? Schließlich gehen auch Kinder aus armen Familien in die Schule. Sie werden nicht ausgeschlossen, weil sie und ihre Familien Sozialleistungen empfangen, und nehmen am ganz alltäglichen Schulleben teil. So sieht es auf den ersten Blick aus und in gewisser Weise stimmt es sogar. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
Auch wenn Kinder und Jugendliche – egal welcher Herkunft – nicht aus dem Bildungssystem ausgeschlossen werden und es eine Schulpflicht für alle gibt, sind Bildungschancen und Bildungsmöglichkeiten ungleich verteilt. Diese hängen, wie unterschiedliche Studien zeigen, von der sozialen Schicht ab. Bereits der französische Soziologe Raymond Boudon wies darauf hin, dass Kinder aus Akademiker- oder Facharbeiterfamilien bessere Bildungschancen haben, als wenn sie in so genannten „bildungsfernen“ Familien aufwachsen würden. Gründe sind, dass es in Familien mit mittlerem oder höherem Einkommen wahrscheinlich mehr Bücher, mehr Kommunikation, mehr Kultur usw. gibt, als in Familien, die Existenzsorgen haben. Familien, die am Ende des Monats kaum mehr finanzielle Mittel haben, um sich zu ernähren, können sich keine Gedanken über die nächste Geschichte machen, die sie ihren Kindern vorlesen. Sie haben mehr Zeit. Arme Eltern können sich auch keine Gedanken darüber machen, welches Instrument ihr Kind lernen könnte. Mal abgesehen davon, dass die Anschaffung eines Instrumentes sowie der Musikunterricht wiederum finanzielle Ressourcen benötigen, die arme Familien nicht haben, sind sie einfach auch nicht in der Lage sich eben jene Gedanken zu machen. Wie denn auch? Niemand von uns kann die Welt erkunden, wenn er hungrig ist und sich Sorgen macht.
Der soziale Filter in Schulen
Bildung und insbesondere schulische Bildung werden oft mit Leistung und Fleiß zusammengebracht. Wer fleißig ist und wer sich anstrengt, bekommt gute Noten und wird belohnt. Diese sogenannte „meritorikratische Erklärung“ beschreibt lediglich nur die halbe Wahrheit, denn sie missachtet die oben genannten unterschiedlichen Lernvoraussetzungen von Kindern. Wie soll ein Kind sein Potential ausschöpfen können, wenn es nicht die Möglichkeit bekommt? Wie soll ein Kind lesen und schreiben lernen, wenn es in einer Familie aufwächst, die gerade andere Sorgen hat, als ihre Kinder in der Schule zu unterstützen?
Die LAU-Studie, über mehrere Jahre angelegte Untersuchung über Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung, machte zum Beispiel deutlich, wie die soziale Schicht den Bildungsweg von Kindern bestimmt. Zum Beispiel wurde nachgewiesen, dass Gymnasialempfehlungen an die soziale Schicht geknüpft werden. Mehr noch: Dass bei Kindern aus „bildungsfernen“ Familien ein sehr viel strenger Leistungsmaßstab angewendet wird, als bei den anderen gleichaltrigen Kindern. Sie müssen mehr Leistung, mehr Fleiß bringen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, als Kinder aus Akademikerfamilien.
Ist das gerecht?
Es ist nach meiner Auffassung der falsche Weg Kinder, Jugendliche und Familien nur nach Leistungen zu bewerten. Aber das tun wir oft und es ist (leider) so bequem. Es ist bequem zu sagen: Dann sollen sie sich halt mehr um ihre Kinder kümmern. Oder: Dann sollen sie in die Bibliothek gehen und sich dort Bücher ausleihen, das kostet nix. Oder: Dann sollen sich die Eltern eben Arbeit suchen, dann brauchen sie kein Hartz IV mehr. Diese Sätze gehen leicht von den Lippen und klingen nach Lösung und so, als sei doch alles gar nicht so schwer. Und gleichzeitig schwingt mit, dass jeder für seine soziale Lage selbstverantwortlich ist. Wir versenden auf diese Weise die Botschaft: Wer Hartz IV bezieht ist selbst daran schuld!
Um es ganz deutlich zu sagen: Die allermeisten Menschen und Familien, die Sozialleistungen beziehen, sind nicht selbstverschuldet in dieser Lage. Die Strukturen des Sozialsystems sind oft nicht integrierend (so wie sie vielleicht sein sollten oder wie wir manchmal denken, dass sie es sind), sondern verursachen und verstärken vielmehr gesellschaftliche sowie soziale Ausgrenzung. Das ist ja das Dilemma: Armut ist zugleich Ursache und Folge von Exklusion.
Kinder und Familien brauchen keinen Leistungsdruck, sie brauchen stattdessen einen achtsamen Umgang mit ihrer ganz individuellen Situation, ganz gleich wie diese auch sein mag. Wir sollten uns Fragen stellen, wie zum Beispiel: Welche Grundlagen bringt ein Kind von zu Hause mit? Welche Ressourcen und Stärken hat es? Oder: Wie kann ein Kind in seiner speziellen Situation unterstützt werden, damit es seine Potentiale entfalten kann? Was braucht es hierzu? Aber auch: Wie können wir die Eltern in das Bildungssystem integrieren? Das sind Fragen, die ehrlich und wertschätzend auf Menschen, auf Familien schauen. Was wir benötigen sind Strukturen, die Integration fördern und die Menschen befähigen ihre Stärken und ihre Talente zu entfalten.
Natürlich gibt es auch immer Ausnahmen und ganz wundervolle Lehrer*innen gibt, die ihr größtmögliches tun, um Kindern und Jugendlichen Chancengleichheit zu ermöglichen. Aber auch sie leiden unter den vorhandenen Strukturen, denn irgendwann ist auch der Spielraum engagierter Pädagog*innen ausgeschöpft.
Dieser Beitrag ist zuerst auf Sandras Blog „Die kritische Schreibwerkstatt mit Herz“ erschienen. Wir freuen uns, dass sie ihn auch hier veröffentlicht.
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