Jivka Ovtcharova ist eine unserer „25 Frauen für die digitale Zukunft“ – sie erforscht, wie ein Produkt beschaffen sein muss, um erfolgreich zu sein.
Ihr Forschungsgebiet: Virtual Engineering
Das Credo von Professor Dr. Dr.-Ing. Dr. h.c. Jivka Ovtcharova: „Mensch im Mittelpunkt” – damit will sie kulturphilosophische Aspekte der Technikkritik thematisieren, ohne dabei zu vergessen, worum es im industrialisierten Produktentstehungsprozess ja immer geht: die Verbesserung der Effizienz bei der Entscheidungsfindung.
Nach der Berufung als Leiterin des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie hat Jivka Ovtcharova das einzigartige Lifecycle Engineering Solutions Center (LESC) für Bildung, Forschung und Kommunikation in virtuellen Welten eingerichtet. In ihrem TEDx-Talk spannt sie den Bogen zwischen der Befreiung des menschlichen Geistes während der Renaissance und dem Internet der Dinge, das ihrer Ansicht nach als ein „Internet der Sinne“ verstanden werden sollte. Klingt alles nicht ganz unkompliziert. Wir haben mal nachgefragt.
Für einen Laien, der nicht so stark in der Materie drin ist: Was kann man sich unter Lifecycle Engineering vorstellen?
„So wie die Menschen haben auch Industrieprodukte wie Autos und Hausgeräte ein Leben und eine Identität, von dem ersten Moment des Entwurfs, bis zur Herstellung und Auslieferung an die Kunden. Während der Nutzung jedes einzelnen Produkts, abhängig von der Art und Weise, wie das Produkt gepflegt wird, kommt es gelegentlich zur Wartung oder sogar zur Reparatur. Nachdem nun das Produkt ausgedient hat, wird dieses dann möglichst umweltfreundlich entsorgt. Das Lifecycle Engineering setzt sich als Ziel, den ,genetischen Abdruck’ jedes industriell hergestellten Produktes abzubilden, sein individuelles ,Leben’ bei den Kunden ,aufzunehmen’ und das Produkt durch seinen ,Pass’ überall auf der Welt eindeutig zu identifizieren. Wertvolle Erkentnisse aus dem ,Leben’ des Produkts fließen dann in die Entwurfsphase zurück, um den Kunden mit der nächsten Generation mehr Freude zu bereiten.”
Sie sagten in einem Vortrag, dass wir heute enorm große Daten- und Informationsmengen zu verarbeiten haben – vor welche Herausforderungen stellt uns das?
„Herausforderungen sind die komplexen Zusammenhänge zwischen den Daten und Informationen und die enorm kurze Verarbeitungszeit. Heutzutage hängen viele Aspekte zusammen. Wie empfindlich das Wirtschaftsbarometer reagiert, ist am deutlichsten an der Börse zu sehen. Eine nicht so optimistische Prognose oder schlechte Quartalzahlen können eine ganze Branche und nicht nur einzelne Unternehmen ins Wackeln bringen. Denken Sie an die Finanzkrise, die 2007 in den USA angefangen hat und die ganze Welt in wenigen Tagen erschüttert hat. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, durch ununterbrochene Datenanalyse im Sinne eines ,Frühwarnsystems’ wie bei einem Tsunami oder bei Erdbeben, kritische Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und möglichen Schaden und Verluste zu minimieren.”
Sie schreiben: „Aktuelle wirtschaftliche Trends fordern eine Optimierung der Entstehungsprozesse von Produkten und Dienstleistungen. Es werden zunehmend neue Methoden zur Betrachtung, Interaktion und Untersuchung von schnell änderbaren und kostengünstig erstellbaren virtuellen Prototypen benötigt.“ – Können Sie das ein wenig ausführen? An welche Trends denken Sie da, und welche Methoden werden benötigt?
„Am besten nimmt man ein Beispiel aus der Automobilindustrie. Mit Hilfe von Online-Konfiguratoren kann praktisch jeder sein eigenes individuelles Fahrzeug virtuell zusammenstellen, bevor es in die Bestellung geht. Welche Optionen von Sitzbezügen und -farben sind mit welchen Lackfarben der Karosserie zu kombinieren, welche Felgen kommen in Frage und was das Gesamtfahrzeug kosten soll, all das ist eine Frage der Vorentwicklung. Und noch mehr: Mithilfe virtueller realistischer Fahrzeugmodelle werden heute viele Prospekte und Glanzbroschüren erstellt, ohne die Fahrzeuge überhaupt je hergestellt zu haben. Die virtuelle Vorführung spart nicht nur die Kosten einer Fertigung, sondern auch Transportkosten, wenn es zum Beispiel darum geht, ein neues Auto in der Sahara oder auf dem Südpol zu fotografieren.”
Und Sie sagen weiter: „Ob ein Produkt heute Erfolg hat, hängt von vielen Faktoren ab, welche wiederum ein komplexes Gefüge bilden. So stellen die emotional geprägte Sicht des Menschen, die veränderten demografischen Strukturen, das verstärkt zunehmende Umweltbewusstsein, die wachsende Mobilität sowie die weltweite Vernetzung von Unternehmen und Märkten wesentliche Rahmenbedingungen für die Entwicklung interdisziplinärer Produkte dar. Die entscheidende Herausforderung für Wirtschaft, Industrie und Wissenschaft liegt heute in der Beherrschung eben dieser Komplexität.“ – können Sie das an einem konkreten Beispiel darlegen?
„Nehmen wir wieder ein Beispiel aus der Automobilindustrie. Wenn Sie sich die schönen alten Filme der 60-er oder 70-er Jahre ansehen, erkennen Sie nur zwei oder drei Fahrzeugmodelle jeder Automarke, zum Beispiel Daimler, Citroen und so weiter. Heutzutage sind es hunderte, sogar tausende. Man versucht, jedem individuellen Kunden sein ,Best-Fit’ Fahrzeug anzubieten und zwar zu einem Preis ,von der Stange’ ohne Aufpreis. Weiterhin sind neue Sicherheits- und –Umweltmaßnahmen zu ergreifen, unter anderem CO2-Reduktion, Fußgängerschutz, etc. Damit sich das wirtschaftlich lohnt, sind zum Beispiel die Entwicklung- und Materialkosten zu reduzieren. Roboter ersetzen die teure Montage per Hand, sowie leichte Materialien wie Aluminium helfen, den Spritverbrauch zu senken.”
„Wenn sich Eigenschaften und Funktionen von zukünftigen Produkten realitätsnah wahrnehmen lassen, bedeutet dies einen entscheidenden Vorteil für Unternehmen und Kunden. Das virtuelle Erleben stellt eine Alternative im Spannungsfeld von Kosten, Zeit, Qualität und Innovation dar und ist gleichzeitig eine überzeugende Lösung versus Komplexitätszwang und zunehmenden Reaktionsbedarf.“ – auch hier: Was bedeutet es, wenn sich Eigenschaften und Funktionen von Produkten realitätsnah wahrnehmen lassen, wie ist das zu bewerkstelligen, gerne auch hier anhand eines konkreten Beispiels?
„Es gibt bereits viele Trends des virtuellen Erlebens, wie etwa ein virtueller Rundgang durch ein Fertighaus, den virtuellen Spiegel, undsoweiter, Beispiele findet man zahlreich im Internet. Diese entsprechen dem Trend, dass Menschen gerne alle mögliche Kaufoptionen abspielen lassen, bevor sie sich für die eine oder andere Option entscheiden, oder auch nicht…”
Noch mehr unserer „25 Frauen für die digitale Zukunft” auf EDITION F
Lea-Sophie Cramer: „Produktbilder von nackten, gekünstelten Frauen wären mir peinlich”. Weiterlesen
Ida Tin: Löst Technologie bald die Pille ab? Weiterlesen
Zoë Beck: „Alles wird bis zum Erbrechen kopiert”: Weiterlesen