Foto: Quelle: Ryan Mcguire

Karneval – das ist weniger alberne Realitätsflucht, als eher wohltuende Psychohygiene!

Warum ausgelassen Karneval feiern gut für unsere Psyche ist!

 

Fasnacht, Fasenet. Fasching, Karneval: Die Narren sind wieder unterwegs. Saufen, Schunkeln, Fremdgehen ‒ das assoziieren karnevalsfreie Regionen mit dem Begriff Fasnacht. Für Karnevalisten ist die fünfte Jahreszeit aber mehr als Alkohol und Party. Millionen begeistern sich für Umzüge, Maskenbälle und Büttenreden. Kein anderes Fest befriedigt so zahlreiche und so widersprüchliche Sehnsüchte wie der Fasching.

Aber was treibt die Jecken an?

Karnevalsmuffel sehen in der Ausgelassenheit der fünften Jahreszeit eher eine alberne Flucht vor der Realität und bemängeln die kollektiven Feierexzesse. Für Tilman Allert, Soziologe und emeritierter Professor, ist Karneval jedoch mehr als eine Alltagsflucht. Sein Interesse an Fasching als Forschungsgegenstand liegt im Spannungsverhältnis von Maske und Authentizität.

Wer an Fasnacht in eine Verkleidung schlüpft, kultiviert einen Rollentausch, der neue Perspektiven sowohl auf die Mitmenschen wie auch auf das eigene Ich eröffnet. Die Grundspannung zwischen Anpassung und Mal-aus-der-Rolle-Fallen kann zwar auch im Fasching nicht vollends überwunden, aber in den tollen Tagen spielerisch erforscht und ausgelotet werden. 

„Löblich ist ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn!“ (Goethe) 

Beschäftigt man sich verstärkt mit der psychologischen Seite des Karnevals, insbesondere was die seelischen und psychosozialen Abläufe anbelangt, erstaunt die reichliche Literatur hierzu. Allen voran zu nennen ist das Buch von Wolfgang Oelsner: „Fest der Sehnsüchte. Warum Menschen Karneval brauchen. Psychologie, Kultur und Unkultur des Narrenfestes“. 

Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut und bekennende Karnevalist beleuchtet sehr kritisch und detailliert die bevölkerungspsychologischen Aspekte der Fasnacht. Ein reicher Fundus an Brauchtum, gepaart mit psychologischem Wissen, der auch karnevalistisch Uninteressierte fesseln kann. 

Heitere Maskerade für die seelische Stabilität

In seinen Büchern beschreibt Oelsner, dass wir die Verrücktheit der Narrentage brauchen, weil wir dann die Möglichkeit haben, uns der Welt einmal anders zu präsentieren. Im Alltag nehmen wir immerzu gewisse Rollen ein: sind gleichzeitig Angestellter, Hobbygärtner, Steuerzahler, Vater oder Mutter, Tochter oder Sohn. Jede dieser Rollen verlangt ein gewisses Verhalten von uns. Die Fasnet bietet uns eine Gelegenheit, aus diesen Mustern auszubrechen.

Als Erwachsene können wir dann wieder so unbekümmert sein wie in unserer Kindheit, als Verkleiden noch ein tägliches Spiel war. Das ist erholsam, macht ausgeglichen und stärkt das Selbstbewusstsein. Die veränderte Perspektive verändert auch unsere Kommunikation – wir können einmal im Jahr anders kommunizieren und möglicherweise auch mal etwas sagen, was uns sonst nie über die Lippen käme. Frei nach Hippokrates’ „Für was ich Worte habe, darüber bin ich schon hinweg“ kann dies einer alljährlichen Psychohygiene dienen. 

Die Letzten werden die Ersten sein

Das Bedürfnis, sich einmal abseits der Realität und ohne alle Konsequenzen auszuprobieren, steckt in jedem Menschen. An Fasnacht machen wir Ferien von unseren sozialen Rollen. Die Verkleidungen lösen selbst Gruppenhierarchien auf. Karneval ist daher auch die Zeit der veränderten Gesetzmässigkeiten: die Empfangsdame schneidet dem CEO die Krawatte ab, das Team darf als Panzerknacker-Gang den Chef entführen.

Die Grossen steigen ab, die Kleinen dürfen sich erhöhen. Tabugrenzen werden verschoben. In dieser Ausnahmezeit ist vieles akzeptiert. Das gilt auch für die Erotik – auch hier darf man beim Flirten (theoretisch) Grenzen überschreiten. Schüchterne können sich durch ihre Kostüme in Konversation üben und sehr Angepasste ihre alltäglichen Ketten sprengen. 

Karneval stärkt die psychologische Stabilität

Zu ähnlichen Befunden kam auch Prof. Dr. Rolf van Dick, Leiter der Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seine Beobachtungen bestätigen, dass allein das Gefühl, mal etwas „ausser der Reihe“ zu tun, für viele schon befreiend wirkt. Im Alltag gibt es viele Regeln, sei es im Beruf, in der Familie oder sogar in der Freizeit, die das Miteinander bestimmen.

An Karneval verlieren diese ihre Gültigkeit. Zwischen Weiberfastnacht und Aschermittwoch können wir uns vom ständigen Vernünftigsein und Anpassen erholen. Dabei ist das Gefühl „Heute kann ich machen, was ich will” entscheidend. 

Den Wandel von Ausgelassenheit und Vergänglichkeit zelebrieren

Karneval hat religiöse Wurzeln und ist christliches Brauchtum. Vierzig Fastentage vor dem Osterfest liegt die Fastnacht, die Nacht, bevor die Fastenzeit beginnt. In der zeitlichen Begrenzung und der Akzeptanz, dass ab Aschermittwoch eine Zeit des Fastens und des Innehaltens beginnt, liegt ein wichtiger Zauber des Karnevals.

Durch den Wechsel vom Alltag in die ausgelassene Faschingszeit und zurück in die Realität feiern wir ein „Wendefest“. Der Moment wird gefeiert, genauso wie die Vergänglichkeit. Dem Wandel zu begegnen und dabei in fremde Rollen zu schlüpfen wird auch in anderen Kulturen zelebriert; man denke an das Purimfest im Judentum. 

Jedes Spiel braucht Regeln

Mittlerweile verändert sich das Verhältnis von Fastnacht und Alltag, insbesondere dadurch, dass die Gesellschaft in den letzten 50 Jahren viel toleranter und offener geworden ist. Nicht jeder braucht die kleine Flucht aus dem Alltagseinerlei als wichtiges Lebenselixier. Jedoch gehen auch die religiösen Wurzen verloren. Wie viele Narren feiern auch den Aschermittwoch oder nutzen die Fastenzeit als Zeit der Umkehr oder Besinnung?

Bei Missbrauch verkommt das Fest. Problematisch ist, dass der Karneval heute nicht mehr so sehr gestaltet, sondern vor allem konsumiert wird. Ausgelassenheit kann umschlagen in kommerzielle Masslosigkeit, ein harmloser Schwips in Suff, und das Spiel mit der Erotik verkommt zum Grapschen. Jedes Spiel braucht Regeln, und so merkwürdig oder spiessig es klingen mag: Die Entscheidung des Bundes Deutscher Karneval hin zu einer Ethik-Charta von elf Punkten ist sinnvoll. Dadurch werden Rituale und Brauchtum gerettet und gepflegt.  

Das Spiel mit Masken und Verkleidungen

Matrose oder wilder Pirat, niedliches Häschen oder sexy Katze: Welches Kostüm jemand an Fasnacht wählt, sagt etwas über die Persönlichkeit aus, sagt der Psychologe und Motivationsexperte Rolf Schmiel. An den tollen Tagen darf jeder das sein, was ihm der Alltag sonst nicht gestattet.


Für Schmiel ist klar, dass Kostüme die Sehnsüchte zeigen, die wir im Alltag nicht ausleben können. Vor einigen Jahren ermittelte er in einer Studie, welche Persönlichkeit hinter welcher Verkleidung steckt – jedoch ohne Gewähr, denn schliesslich bestätigen Ausnahmen die Regel, und manche Kostüme zollen dem mitteleuropäischen Wetter ihren Tribut.
 

  • Niedliches Mäuschen, Tanzmariechen oder schöne Prinzessin: Eine Frau, die diese Verkleidung wählt, jedoch ohne den Fokus auf ihre weiblichen Reize zu legen, drückt laut Schmiel mit ihrem Kostüm meist den Wunsch aus, beschützt zu werden. Sie wünscht sich wohlwollende Aufmerksamkeit. Das männliche Pendant hierzu ist das Babykostüm. 
  • Sexy Krankenschwester oder neckische Nonne: Legt die Trägerin den Fokus weniger auf Schönheit, sondern mehr auf Sinnlichkeit, ist sie sich vermutlich im Alltag ihrer Sexiness nicht ganz sicher. Gemäss dem Deutschen Verband der Spielwaren-Industrie (DVSI) werden die Röcke übrigens immer kürzer und das Dekolleté tiefer.  
  • Eishockeyspieler oder Musketier: Männer versuchen eher seltener, an Karneval besonders
    sexy zu wirken. Jedoch möchten
    Männer, die sich als Musketier oder Eishockeyspieler verkleiden, Stärke demonstrieren, was sie für Frauen begehrenswert macht.  
  • Piraten, Cowboys oder Clowns: In diesen Faschingsklassikern sieht Schmiel Langweiler, sofern es sich um ein Standardkostüm handelt, das jedes Jahr getragen wird. Es zeugt von wenig Kreativität und einer gewissen Ängstlichkeit, selbst an Fasnacht mit Gewohnheiten zu brechen. Zudem gilt der Clown als sexuelles Neutrum. 
  • Witzige Kostüme: Das ist eher die Domäne der Herren. Wenn auch manche Kostümierung als Kamel oder Kuh dem hiesigen Wetter geschuldet ist, sieht Schmiel in diesen „plump-lustigen“ Verkleidungen eher Männer der Kategorie Bürohengst, die auf Teufel komm raus Humor beweisen wollen. 
  • Wirklich witzige und kreative Kostüme: Ein bandagierter Spiderman oder die formvollendete Dragqueen mit Vollbart weisen auf einen Mann hin, der auch im Alltag kreativ und humorvoll ist. 
  • Zombie oder Hexe: Wer sich bewusst hässlich macht, hat gemäss Schmiel eine starke Persönlichkeit und steht auch im normalen Leben häufig über den Dingen. 

Was auch immer als Kostüm gewählt wird oder ob man als Nicht-Karnevalist an Rosenmontag die Flucht in den Norden antritt: spätestens am Aschermittwoch ist alles vorbei. Dann kehrt die Alltags-Nüchternheit wieder zurück. Für die Jecken gibt es jedoch einen Hoffnungsschimmer: den nächsten Fasching!  

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