„Nein! Ich will das nicht!“ Kinder beherrschen es meistens hervorragend, uns ihre Grenzen mitzuteilen – direkt und bestimmt, manchmal ziemlich laut. Wann endet diese Fähigkeit eigentlich beim Menschen?
„Nein! Ich will das nicht!“ Kinder beherrschen es meistens hervorragend, uns ihre Grenzen mitzuteilen – direkt und bestimmt, manchmal ziemlich laut. Wann endet diese Fähigkeit eigentlich beim Menschen? Wenn wir oft genug gehört haben: „Man sagt ´ich möchte`, nicht ´ich will´? Wenn das Zeigen unserer Grenzen oft genug ignoriert, belacht oder bestraft wurde? Ich will (und möchte nicht nur) etwas zum Thema Grenzen sagen, das mir wirklich sehr auf der Seele brennt. Es wird viel darüber gesprochen und geschrieben, dass Kinder wieder mehr Grenzen brauchen, weil sie den Eltern sonst auf der Nase rumtanzen, alles nach ihrem Willen läuft und weil sie sonst keine sozialen Wesen werden.
Wenn ich mir das bildlich vorstelle, was das heißt, meinem Kind Grenzen zu setzen, dann stelle ich mir vor, dass ich eine Begrenzung um mein Kind ziehe und ihm mitteile, dass es sich innerhalb dieser von mir gesteckten Grenze zu bewegen hat. Dass ich also weiß, was richtig ist und was falsch und was das Beste für mein Kind ist und es ihm aufzeige, damit es das auch lernt. Ich sperre mein Kind ein in MEIN Richtig und Falsch und muss mich und meine Bedürfnisse dadurch nicht zeigen. Ich setze unpersönliche Grenzen, in denen es darum geht, wie MAN etwas macht oder nicht macht. Ich gehe aus dem Kontakt. Ich befinde mich in einer Subjekt-Objekt-Beziehung zu meinem Kind und in keiner Subjekt-Subjekt-Beziehung, in der auch ich sichtbar werde mit meiner Freude, meiner Angst und meinem Scheitern. Ich kommuniziere nicht auf Augenhöhe, sondern stehe wie eine große Instanz vor meinem zu mir aufblickenden Kind. Im Ergebnis fühlt sich mein Kind falsch und bekommt das Gefühl suggeriert, dass es sich nach meinen Wünschen ändern muss, weil mit ihm etwas nicht stimmt.
In einer Beispielsituation könnte das in etwa folgendermaßen ablaufen: Etwas, das mein Kind tut, geht über meine persönliche, individuelle Grenze (es geht vielleicht nicht über die Grenze meines Partners und vielleicht auch nicht jeden Tag über meine Grenze, auch ich habe verschieden stabile Tagesformen). Heute ist es aber so! Meine Tochter hört zum Beispiel sehr laut Musik und ich bin erschöpft und brauche Ruhe.
Jetzt können zwei verschiedene Dinge in mir ablaufen: Entweder ich denke etwas in die Richtung: „Wie kann sie nur so rücksichtslos sein? Man hört nicht so laut Musik und schon gar nicht, wenn man weiß, dass die eigene Mutter müde ist.“ Dann komme ich wahrscheinlich daher und will meinem Kind eine Grenze setzen, ihm zeigen, dass es sich falsch verhält und wenn es sein Verhalten nicht ändert, drohe ich vielleicht mit einer Konsequenz (was nichts anderes ist als das moderne Wort für Strafe, auch wenn manche Menschen so tun, als gäbe es einen Unterschied). Das kann dann in etwa so klingen: „Immer hörst du diese schrecklich laute Musik. Denkst du auch mal an andere? Mach sofort den Lärm aus, sonst ist die Musikanlage für das ganze Wochenende gestrichen.“ Ich übe die Macht aus, die ich als Mutter habe, weil mein Kind abhängig ist von mir als Versorgerin und von meiner Liebe.
Wie auch immer mein Kind reagiert, es wird sich herabgesetzt und verletzt fühlen. Diese Herabsetzung kann in der Form nicht stattfinden mit einer Freundin oder einem Partner, weil die sozialen Machtverhältnisse in erwachsenen Beziehungen andere sind. Und da sind wir beim entscheidenden Wort: BEZIEHUNG. Was ich nämlich bei dieser Variante nicht tue, ist in Beziehung zu meinem Kind zu treten. Es gibt Kinder, die diese Behandlung einigermaßen wegstecken und es gibt Kinder mit einem größeren Autonomiebedürfnis, die dies nicht tun. Auf lange Sicht wird das Kind entweder mehr und mehr versuchen, herauszufinden, was ICH will und versuchen, es mir
rechtzumachen oder es wird rebellieren.
Die zweite Variante wäre zu meinem Kind etwas zu sagen wie: „Ich bin heute wirklich müde und wenn du so laut Musik hörst platzt mir fast der Schädel, ich will mich ausruhen.“ (Auf welche der beiden Ansprachen wir selbst eher reagieren würden ist offensichtlich). Der Unterschied ist: Im ersten Fall setze ich meinem Kind eine Grenze, im zweiten Fall teile ich dem Kind meine persönliche Grenze mit. Und dazu muss ich mich als Mensch zeigen. Ich beobachte, dass viele Eltern und auch Lehrer*innen sich den Kindern nicht zeigen, dass sie stattdessen versuchen, vermeintlich pädagogische Verhaltensweisen zu benutzen, um ihr Ziel zu erreichen. Kurzfristig erreichen sie ihr Ziel vielleicht, aber zu welchem Preis? Und was ist das höhere Ziel? Das ist doch (hoffentlich), dass das Kind zu einem glücklichen, selbstbewussten und empathischen Erwachsenen wird und nicht zu einem verängstigten und gehorsamen. Ich will, dass mein Kind seine Grenzen kennt und dafür einsteht, dass seine und auch die Grenzen anderer Menschen nicht überschritten werden. Gehorsame Kinder sind weniger gut in der Lage, für sich selbst zu sorgen und werden eher ausgenutzt. Sie befolgen Befehle, ohne Fragen zu stellen und ohne Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Wo das hinführen kann wissen wir alle. In diesen Zeiten brauchen wir selbstständig denkende, eigenwillige und verantwortungsvolle Individuen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Kinder kooperieren wollen und dass sie ein wertvoller Teil unserer Gesellschaft sein und etwas zum Gemeinwohl beitragen möchten. Ich habe selten ein stolzeres Kind gesehen als eines, das gerade einem Erwachsenen aus freien Stücken bei etwas helfen konnte. Und dennoch stecken Kinder (wie wir Erwachsenen auch) immer in dem Konflikt, entscheiden zu müssen: was tut MIR gut und was will ich für DIE GEMEINSCHAFT tun? Jeder Mensch hat eine Persönlichkeit, die nicht beschädigt werden darf. Jesper Juul redet von der Integrität eines jeden Menschen, um deren Wahrung es geht, wenn ich mich frage, ob ich noch kooperieren kann, oder ob dies über meine persönliche Grenze hinausgehen würde. Kooperationsfähigkeit hat seine Grenzen. Wir merken Kindern an, wenn sie zu viel kooperieren mussten. Entweder, wenn sie das in der Schule müssen und zu Hause dann „frei drehen“, oder wenn sie es zu Hause müssen und in der Schule „verhaltensauffällig“ werden. Ist ein Kind in hohem
Maße aggressiv und unkooperativ, dann können wir davon ausgehen, dass zu oft über seine Grenze hinweggegangen wurde. Und nicht davon, dass es ein schwieriges und böses Kind ist.
Das ist für mich ein Unterschied im Menschenbild und wir können uns entscheiden, mit welcher Kultur wir einander begegnen wollen. Wenn mein Kind hinsichtlich des kooperativen Zusammenlebens in der Familie immer wieder blockiert, dann haben wir einen tiefsitzenden Beziehungskonflikt. Das kann ich anerkennen und dafür die Verantwortung übernehmen. Oder ich kann mein Kind für falsch und schlecht halten mit der Absicht, es zu verbessern. Um zu testen, ob wir gerade die Integrität unseres Kindes verletzen ist ein guter Trick, den Jesper Juul mal in einem Interview beschrieben hat, uns zu fragen, ob wir so mit unserer Freundin reden würden (Tonfall, Worte, Blick). Das entlarvt manchmal in sekundenschnelle unsere Kommunikation und innere Haltung gegenüber unserem Kind.
Manchmal denke ich, es ist doch so einfach. Warum wählen wir nicht alle die zweite Variante und sprechen mit den Kindern zu Hause und in der Schule über das, was in uns vorgeht? Meine Antwort ist: weil wir es nicht gelernt haben, von UNS zu reden, weil wir nicht das Vertrauen haben, dass wir gehört werden, wenn wir unsere Macht nicht ausüben, weil wir Angst haben, uns zu zeigen und dann möglicherweise ausgelacht zu werden, weil wir uns oft gar nicht mehr darüber bewusst sind, was wir eigentlich fühlen und dass gerade unsere Grenze übertreten wurde und weil wir nicht wissen, WIE wir unsere Bedürfnisse persönlich kommunizieren sollen.
Wenn wir es tun würden (und ich mache jetzt eine große Utopie auf), hätten wir eine andere Welt, ein anderes gesellschaftliches Zusammenleben. Gemeinschaften sind am stärksten, wenn jeder seine Individualität leben darf. Dann hätten wir nicht ständig damit zu tun, unsere Demütigungen zu kompensieren, uns zu verstecken, um nicht verletzt zu werden und die Schuld auf die anderen zu schieben. Dann würden wir die Verantwortung für uns, unsere Grenzen und unsere Bedürfnisse übernehmen und diese kommunizieren. Und wir würden das auch unseren Kindern vorleben. Ein
Kind, das weiß, dass seine Bedürfnisse Ernst genommen werden, kann viel eher damit umgehen, sie nicht immer erfüllt zu bekommen, als ein Kind, dem gezeigt wird, dass seine Bedürfnisse falsch oder schlecht sind. Das Kind müsste sich nicht schämen und nicht an anderer Stelle andere herabsetzen, um sich wieder aufzuwerten, es müsste sich Dinge nicht mit aller Kraft erkämpfen, um nicht zu kurz zu kommen. Es kann sich selbst als Person Ernst nehmen und aus freien Stücken einen wichtigen Teil zum gesellschaftlichen Leben beitragen.
Auch wenn es nicht leicht ist, können wir damit anfangen, es zu üben – uns zu zeigen. Dieser Wandlung muss ein Perspektivwechsel vorausgehen. Wir machen uns auf eine Reise, bei der es darum geht, innerliche Stärke zu erlangen und uns und unsere Bedürfnisse anzunehmen. Auf
Basis dieser Annahme können wir den Mut aufbringen, auf die Einhaltung unserer Grenzen zu bestehen und die Kraft, darüber zu streiten, ohne Angst, unser Gesicht zu verlieren. Dann kann ich auch laut werden und bestimmt. Und ich kann verletzt sein und Schwäche zeigen. Wenn ich immer wieder zu meiner inneren Stärke zurückkomme, muss ich mich nicht auf Machtspiele einlassen. Dann strahle ich eine große natürliche Autorität aus, die zeigt, dass ich weiß, wer ich bin
und was ich will. Dann werde ich Ernst genommen. Wenn ich mich selbst auf diese Art und Weise annehme, wird auch die Annahme für das Verhalten meines Kindes wachsen. Und das wird nicht dazu führen, dass es mir auf der Nase rumtanzt, sondern dazu, dass auch mein Kind mehr von mir annehmen kann. Dann haben wir eine enge vertrauensvolle Beziehung, in der natürlich immer wieder unsere Grenzen mächtig aneinander knallen und wir uns streiten werden. Aber es wird darum gehen, unsere eigenen Grenzen zu verteidigen (wenn sie wirklich wichtig sind) oder sie
abzuändern (wenn sie weich sind) und nicht darum, die Grenzen des anderen zu modifizieren.
Das Spannende ist: so lernen wir uns in unserer Andersartigkeit kennen. Denn, oh Wunder, unsere Kinder sind anders als wir. Wir sollten also aufhören, sie nach unseren Vorstellungen gestalten zu wollen. Ich behaupte: Kinder brauchen keine Grenzen, Kinder brauchen vertrauensvolle Beziehungen zu Menschen, die ihre Grenzen kennen und zeigen. Denn nur so ist ein gleichwürdiges Zusammenleben möglich, in dem es darum geht herauszufinden: Wer bin ich? Wer bist du? Und wie finden wir gemeinsam einen guten Weg des Zusammenlebens?