Die Bunte ließ in dieser Woche Leser abstimmen, ob ein dreijähriges Kind zu dick sei. Ein Beispiel dafür, worum es in Journalismus-Debatten gehen muss.
Geschäfts-modelle oder Werte?
Die „Zukunft des Journalismus“ klingt aktuell nur noch nach einer ausgewaschenen Phrase – alle arbeiten irgendwie daran, jeder hat Ideen, die dann mal „Spiegel 3.0“, Paid Content oder Listicles heißen. Worum es jedoch zu wenig geht, sind Werte. Die Haltung einer Redaktion und eine Haltung, die eine Branche vereinen könnte. Dass es darum geht, nicht nur möglichst viele Leser wild klicken zu lassen, sondern zum Nachdenken anzuregen, zu bilden und das Publikum entlang journalistischer Inhalte eigene Meinungen formen zu lassen.
Medienethische Debatten vermisse ich schon lange. Die Kritik an Unterhaltungsformaten wie Heidi Klums „Germany’s Next Top Model“ sind dabei nur müde Abwehrreflexe, die immer dann wach werden, wenn die Erwachsenwelt nicht versteht, was eigentlich mit „dieser Jugend“ los ist. Warum kotzt und hungert sie, warum werden trotz Ego-Shootern nicht alle zu Mördern?
Um zu verstehen, was die einstige Zielgruppe der Bravo bewegt, die sich längst von traditionellen Medien verabschiedet hat und sich lieber in hunderten von WhatsApp-Nachrichten täglich und beeindruckend erfolgreichen YouTube-Kanälen selbst unterhält, wären auch Positionen zu Jugendmedien unabdingbar. Die Chefredaktionen, die sich als intellektuelle Elite des Landes verstehen, müssten sich auch in diese Diskussion einklinken und ihre Zielgruppen von morgen kennen lernen wollen. Wenn man sich die jüngsten Wechsel in den Chefsesseln der großen Magazine anschaut und die Innovationen großer Verlage für jüngere Zielgruppen, festigt sich jedoch der Eindruck, dass die großen Medien ihre Zukunft vor allem in gleichaltrigen Männern sehen.
Hohn jetzt auch für Kleinkinder
Ein Anlass mehr, nach dem ich mir stärkere Positionen zu der Verantwortung von Medien gewünscht habe, gab mir diese Woche bunte.de. Das Portal zeigte ein Foto von der dreijährigen Tochter von Victoria und David Beckham, die der Fußballspieler auf seinem Arm trug. Die Überschrift des Artikels lautet „Ist ihre kleine Harper zu dick?”. Doch allein dieses Fatshaming eines Kleinkindes reichte der Redaktion nicht, sie ließ die Leser der Klatschseite außerdem darüber abstimmen, was sie über das Gewicht des Mädchens denken. Mit einem Namen bürgt kein Redaktionsmitglied für diese Entgleisung – der Beitrag stammt von der „Bunte.de-Redaktion“. Vielleicht hat sich die Person, die diesen Text schrieb und ins Netz stellte, doch ein wenig geschämt.
Dass Frauen es niemandem recht machen können, vor allem nie mit ihrem Gewicht, dazu braucht man noch nicht einmal einen zweiten Beitrag zu Rate ziehen. Das erledigt Bunte.de in einem Aufwasch: Denn im gleichen Artikel sorgt man sich um den mageren Körper der Mutter Victoria. Boulevard-Blätter leben von der Diffamierung von Prominenten, dabei sind Outfit-Kritiken die harmlose Variante, dass normalgewichtigen Frauen eine Schwangerschaft unterstellt wird, ist jedoch an der Tagesordnung. In der einen Woche machen die Magazine mit der Sorge um immer dünner werdende Stars auf, in der nächsten Woche lachen sie darüber, wer „zu viel“ gegessen hat.
Der Einfluss, den der Druck dünn zu sein nicht nur auf Frauen in Hollywood, sondern überall in der Welt hat, ist unbestritten. Diätenwahn und die steigenden Erkrankungszahlen an Magersucht und anderen Essstörungen stehen mit der Bilderflut, die durch Medien verbreitet werden, im Zusammenhang. Dabei werden die Mädchen, die ihren Körper hassen, abnehmen wollen oder schließlich hungern immer jünger. Knapp 30 Prozent der Mädchen zwischen elf und 17 Jahren weisen Symptome von Essstörungen auf, Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts findet sich jedes vierte deutsche Kind zwischen neun und 14 Jahren zu dick, jedes dritte hat schon eine Diät hinter sich. In Beratungsstellen für Essstörungen kommen mittlerweile schon Eltern mit ihren sechsjährigen Kindern.
Unbeschwerte Kindheit: adé. Körpernormen machen nicht nur Erwachsenen das Leben schwer. Sie rauben bereits denjenigen, die jedes Recht darauf haben, unbekümmert zu essen und vor allem die Welt zu erkunden, nicht das perfekte Aussehen, die Kindheit.
Klicks allein sind nicht die Zukunft
Dass Onlinemedien oft Stücke unter der Frage produzieren (müssen) „Klickt das gut?“, entschuldigt einen Artikel wie den über Harper Beckham nicht. Als Journalisten tragen wir Verantwortung für das, was wir produzieren. Dabei geht Verantwortung über Faktentreue hinaus, wir müssen nicht nur unsere Quellen schützen, wir müssen in der Ausbildung lernen und uns immer wieder neu hinterfragen, wie das, was wir publizieren, auf unser Publikum wirkt.
Die Realität ist durch Medien nicht abbildbar, sie lässt sich jedoch stark verzerren, sie lässt sich beeinflussen. Wäre journalistische Arbeit wirkungslos, würde kaum jemand diesen Beruf wählen.
Realitätsverzerrung bedeutet zum Beispiel, dass die von Medien zitierten Experten männlich dominiert sind und nicht das tatsächliche Geschlechterverhältnis abbilden, wie diese Infografik von 4th Estate beispielhaft zeigt. Über was und über wen Medien berichten, hängt auch davon ab, wer in den Redaktionen sitzt. Deswegen ist eine Durchmischung verschiedener Altersgruppen, kultureller und sozialer Herkünfte sowie Geschlechter nicht nur ein Wettbewerbsvorteil, wie Diversity oft versucht wird schmackhaft zu machen. Vielfalt in Medien ist auch eine ethische Frage, zu der wir als Journalisten eine Haltung entwickeln müssen – und die uns dann bei der Nachwuchsförderung, bei der Einstellungspolitik und im Austausch miteinander leiten sollte.
Zu einer Haltung, die begreift, dass Medien wirken, gehört dann auch, in Redaktionskonferenzen aufzustehen, Kollegen anzurufen oder bei einem Kaffee mit ihnen zu sprechen, und deutlich in Frage zu stellen, ob ein Artikel noch mit den Werten unseres Berufes vereinbar ist, oder die Idee, die ein paar Hefte mehr verkauft oder Klicks generiert, nicht viel mehr kostet: etwas, das sich wirtschaftlich nicht messen lässt.
Ich glaube nicht, dass es in der Redaktion der Bunten oder bei Burda niemanden gibt, der es nicht verantwortungslos und beschämend findet, ein Kleinkind als „zu dick“ zu bezeichnen. Ich glaube hingegen, dass selbst Boulevard-Journalismus erfolgreich sein kann, wenn er sich ethischen Standards verpflichtet. Klicks allein sind nicht die Zukunft. Und wenn sie auf so verletzende Art und Weise gewonnen werden, schon gar kein Grund, auf sie stolz zu sein.