Dieser Text ist viele Geschichten oder auch nur eine einzige. Es geht um Berlin, um Freundschaft, Flucht, Familiennachzug und Fremdheit. Es geht um Verletzungen, Zugehörigkeit und um das Gefühl Zuhause zu sein.
Berlin und ich haben eine gemeinsame Geschichte. Ganz wortwörtlich. Wir sind beide auf dem selben Stück Erde entstanden und wir waren hier beide hinter einer Mauer versteckt. Gelebt habe ich auch an anderen Orten. Wirklich zuhause war ich bislang nur in Berlin. Hier habe ich gelernt mich mit den dunklen,
schmerzhaften Seiten auseinanderzusetzen, die auch zu mir gehören. Hier habe
ich gelernt, dass ich niemandem gerecht werden muss außer mir selbst.
Das macht Berlin nicht unbedingt zu einer schönen Stadt. Berlin steht auch für Einsamkeit, für nicht gesehen werden und für lose Kontakte, die nach der ersten Begegnung schon wieder ihr Ende finden.
In Berlin darf das alles gleichzeitig da sein. Das Schöne und Edle, das Schmutzige, Rohe und Verwahrloste.
Ich lebe in Neukölln. Wenn ich von hier mit dem Fahrrad nach Mitte fahre, habe ich das Gefühl zwischen Welten zu wechseln. Von Armut, Dreck und dem Mut Neues zu probieren, komme ich am Gendarmenmarkt zu Geld und selbstverständlichen und verzweifelten Festhalten am Status Quo. Bei beidem
gehöre ich nicht richtig dazu. Ich bin beides und mehr.
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2015 war das Jahr der Flüchtlingskrise. Menschen kommen, weil das Leben hier besser scheint. In Mitte sehen die Menschen auch besser, gesünder, gepflegter, ausgeglichener aus als in Neukölln. Ist es einfacher von der Hermannstraße sozial aufzusteigen oder die Überfahrt übers Mittelmeer zu überleben?
Mir wurde beides erspart. Im Oktober 1989 wurden Flüchtlinge sehr herzlich empfangen. Meine Mutter konnte mit mir über die westdeutsche Botschaft in Prag ausreisen. Die Bahnhöfe waren voll, um uns zu empfangen. Danke.
Das Leben ist einfach, wenn man denen, denen es gut geht, am Herzen liegt. Und wenn der eigene Wunsch von Ost nach West zu gehen auch politisch ins Programm passt.
Die Menschen aus Neukölln will niemand in die Mitte holen. Und die aus den Booten sollen am besten ertrinken. Dann können wir kurz trauern, beteuern, dass so etwas nicht noch einmal passieren darf und dann ungestört weiterleben. Niemand hat die Absicht Menschen ertrinken zu lassen.
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Berlin ist der Ort, an dem Widersprüchliches sein darf. Anders zu sein ist immer eine Frage der Perspektive. Manche meiner Freunde halten mich für links-idealistisch bis hin zur Naivität, andere werfen mir vor schon nahezu ignorant konservativ zu sein.
Die Kategorien helfen uns nicht weiter. Nur das konkrete Gespräch, das Austauschen von Details, das gegenseitige Verstehen wollen, schafft Klarheit.
Abdul habe ich kennengelernt als er 16 war. Ein UMF. Unbegleiteter minderjähr iger Flüchtling. Natürlich hielt ich mich für weltoffenund tolerant. Andere denken vielleicht in Schubladen – ich sicherlich nicht.
Es hätte alles so einfach sein können. Dann brauchte er kurz nach der Silvesternacht in Köln meine Hilfe um eine Anzeige zu übersetzen. Sexuelle
Belästigung. Ist nicht falsch, was dort steht, sagt er. Zu dumm.
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Dürfen Menschen Fehler machen? Dürfen Menschen gleichzeitig gut und böse sein? Was bedeutet „gut“ und „böse“? Was bedeutet „dürfen“?
Was würde es heißen einfach nur zu sein? Wer kann es sich leisten, einfach nur zu sein? Mit allem, was sie oder er ist?
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Die neuen Seiten, die ich an mir entdeckt habe, als ich den Mut hatte meine inneren Mauern einzureißen und für eine Weile in Trümmern zu leben, die waren auch böse. So viel Wut und Trauer, mit der ich nicht wusste, wohin. Nicht, dass ich sie gerne gezeigt hätte. Mir war am Anfang nichts wichtiger als sie zu verstecken. Alles verstecken, alles mit mir alleine ausmachen.
Berlin ist auch deshalb mein Zuhause, weil hier Menschen leben, die ich schon lange kenne. Mit denen ich gut und eng befreundet bin. Die mich nicht alleine lassen, sondern, die auch da sind, wenn ich am liebsten gehen würde.
Wie soll jemand, der nach vielen Monaten Flucht hier ankommt alleine mit seinen inneren Monstern fertig werden? Wo sollen die Wut und Trauer hin?
Jeder Ort, alle Personen, sind auch immer eine Resonanzfläche, eine Antwort auf die Frage, wer ich bin. Wer bin ich, wenn niemand da ist?
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Wer Teil von etwas ist, ist immer nur ein Teil, niemals das Ganze. Jeder Teil hat Einfluss, aber keiner hat die Kontrolle.
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Es gibt Momente, in denen ich nicht möchte, dass sich etwas verändert. Jetzt zum Beispiel. Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist. Oder, noch besser, wieder wird, wie es war.
Natürlich weiß ich, dass das nicht geht. Aber jede Veränderung bedeutet eben auch loslassen von Vertrautem und Liebgewonnenem. Von Sicherheit und Gewissheit. Solange alles so bleibt, wie es war, weiß ich, wer ich bin. Nämlich die, die ich immer war.
Vielleicht ist Veränderung aber auch nur solange bedrohlich, wie ich nicht angekommen bin. Wirklich ankommen kann ich nur bei mir. Jedes physische Nest kann irgendwann vom Baum fallen oder mir falsch erscheinen. Ich zu sein ist die einzige Chance, die ich habe.
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Ich zu sein, ist die einzige Chance, die ich habe.
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In Berlin habe ich Freunde, die ich schon lange kenne. Wozu ist das gut? Was ist der Unterschied zu neuen Freunden oder Unbekannten?
Bei alten Freunden denke ich weniger über das wie des Umgangs miteinander nach. Ich fühle mich verstanden, ohne zu wissen, ob es wirklich so ist. Vielleich geht es vor allem darum: Ich fühle mich weniger fremd, weil niemand mir Fremdheit widerspiegelt. Ich muss mich nicht hinterfragen. Ich kann einfach sein.
Was braucht der Mensch, um immer einfach zu sein? Ist das überhaupt realistisch?
Trägt nicht jeder von uns die Angst in sich, nicht genug zu sein? Brauchen wir nicht deshalb die Anerkennung anderer, um zu wissen, dass wir ok sind?
Für Berlin bin ich ok. Aber bin ich auch in anderen Städten ok? Sollte nicht jeder Mensch, überall ok sein?
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Menschen kann man nicht festhalten. Egal, wie nahe ich ihnen komme und versuche zu bleiben. Menschen kann man nur anziehen, so wie ein Magnet. Man kann sie einladen zu sein, wie sie sind. Das geht dann am besten, wenn man selbst so ist, wie man ist. Wenn ich nicht die Anerkennung anderer brauche, wenn ich keine Angst habe vor der Fremdheit, die sie mir spiegeln.
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Mein Vater ist nicht gegangen, um mich und meine Mutter zu verlassen. Das ist ihm wichtig. Mein Vater ist gegangen, weil er nicht er sein konnte. Was ist das für ein Land, dass Menschen nicht sie selbst sein lässt?
Und sind die Menschen in Westdeutschland sie selbst? Oder haben sie nicht auch gelernt, sich anzupassen? Es gibt viele unausgesprochene Vorgaben, was ein guter Mensch ist. Was ein produktives Mitglied der Gesellschaft ist. Gesund, gut gelaunt und geldsüchtig, denn über Geld sollst du gesteuert werden.
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Nur die Flüchtlinge machen etwas falsch, wenn sie Wirtschaftsflüchtlinge sind. Als Flüchtling muss dir Geld egal sein. Also du sollst dich schon möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integrieren, damit wir dich nicht mehr versorgen müssen. Aber du darfst nicht mit diesem Ziel herkommen. Du bist ein guter Flüchtling, wenn du als Opfer von Gewalt, Krieg oder politischer Verfolgung psychisch gesund und leistungswillig hier ankommst. Das ist Willkommenskultur.
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Es fällt mir schwer zu verstehen, was der Unterschied zwischen mir und diesen Menschen ist. Ja klar, sie sind anders als ich. Aber auch meine Eltern sind mit der Hoffnung auf ein besseres Leben aus Deutschland nach Deutschland geflohen. Einer nach dem anderen.
Meine Eltern haben sich auch fremd gefühlt im neuen Zuhause. Ungewollt haben sie dafür gesorgt, dass ihre neuen Freunde sich selbst auch als fremd erlebt haben. Nicht absichtlich, sondern einfach, weil sie anders waren. Sie hatten anderes erlebt, hatten andere Fragen und andere Gedanken. Bis das alles zu anstrengend wurde und sie entschieden haben, alles, was an ihnen anders war, einzusperren und wegzuschließen.
Als Kind lernt man schnell, worüber man sprechen darf und worüber nicht. Das große Fremde in mir, all die Angst, Wut und Trauer mussten zurück hinter die Mauer. Die Mauer, die es da schon gar nicht mehr gab.
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Die Mauer wurde von denen zerstört, die eingesperrt waren, die nicht über sie hinwegsollten. Das ist jetzt auch so. Grenzen werden von denen überwunden, die wegwollen. Ich habe wenig Interesse im Schlauchboot übers Meer zu fahren.
Europa will nicht, dass jeder hier sein kann.
Ich wollte auch nicht, dass die Wut und Trauer in meinem Kopf sein dürfen. Aber die ins unendliche gewachsene Wut und Trauer sind auch nicht die Bösen. Die Bösen sind die, die Mauern bauen. Sind die, die Fremdheit nicht akzeptieren. Sind die, die Angst davor haben, nicht ok zu sein. Und das ist schon wieder nicht böse.
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Ich weiß nicht, ob es eine Gesellschaft geben kann, in der jeder ok ist. In der sich niemand als fremd fühlt.
Es wäre schön, mal für ein paar Tage so zu tun. Sich darauf zu einigen, dass wir für ein paar Tage uns gegenseitig mit Offenheit und Wohlwollen begegnen. Uns verstehen wollen und besser kennenlernen. Gegenseitig und selbst.
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Und alle Wunden dürfen heilen.
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Freundschaft ist das Gefühl zusammenzugehören. Ähnlich wie in einer Familie oder Paarbeziehung. Freunde sind die Menschen, die sich freuen, dass es mich gibt. Für die ich da bin und die für mich da sind. Nicht immer sichtbar, aber immer spürbar.
Vertrauen entsteht, wenn man sich aufeinander verlassen kann. Wenn man sich verletzlich zeigt und aufgefangen wird. Wenn man Aufs und Abs miteinander teilt. Freundschaft heißt zum Leben des anderen dazuzugehören.
Freundschaft ist eine Einladung, eine geöffnete Tür in ein Haus, in dem Platz ist und in dem man einfach sein darf. Und Freundschaft ist die Bereitschaft das eigene Haus zu verlassen, sich einladen zu lassen und Neues zu erleben. Warum begegnen wir nicht allen Menschen so? Warum sind wir nicht überall, wo wir sind, unter Freunden?
Vielleicht ist die Auswahl zu groß. Vielleicht braucht es das drinnen und draußen, um vor Beliebigkeit zu schützen. Oder vielleicht ist es zwar realistisch allen Menschen auf dieselbe Art zu begegnen (offen, wohlwollend, einladend), aber nicht realistisch allen gleich oft zu begegnen.
Freundschaft hat auch etwas mit Zeit zu tun. Wer oft zu Besuch war, kennt sich im Haus aus, fühlt sich selbst wie zuhause. Wer schon oft zu Besuch war, kommt auch, wenn es gerade unordentlich ist und hilft vielleicht sogar beim Aufräumen.
Wie fühlt es sich an, neu zu sein, vor verschlossenen Türen zu stehen und in einem Haus zu wohnen, das in Trümmern liegt? Ein Haus dem Fundament und wichtige Wände plötzlich fehlen?
Es ist nicht leicht ein Haus alleine wiederaufzubauen.
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Ich war schon oft neu in meinem Leben. Gehört man dazu, wenn man neu ist? Bin ich von Anfang an wert geliebt zu werden, willkommen zu sein und dazuzugehören? Oder muss ich mir das erst verdienen? Muss ich erst geben, um zu bekommen?
Was passiert, wenn ich einfach da bin? Wenn ich die Türen meines Hauses öffne, Tee koche, Kekse backe und warte, dass jemand vorbeikommt – reicht das?
Oder sollte ich an Türen klopfe, mich vorstellen oder reinschleichen?
Was würde ich tun, wenn der Glaube an meine Liebenswürdigkeit unerschütterlich wäre?
Ich würde allen Menschen wie Freunden begegnen. Ich würde offen und einladend und neugierig sein. Ich würde mich zurückziehen, wenn ich das brauche und zu mir einladen, wenn ich mir Gesellschaft wünsche. Ich würde mich einladen lassen und andere besuchen. Ich hätte Vertrauen, dass ich wertvoll bin.
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Ich fühle, dass ich geliebt werden und willkommen bin.
Ich gehöre dazu. Einfach, weil ich ich bin.
Ich liebe und ich lade ein.
Ich bin da.
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Die Zeit ist nicht verloren. Die Zeit ist immer da. Du kannst jederzeit alles tun. Du kannst dich jederzeit jedem Thema und jeder Person zuwenden. Ganz real und in Gedanken. Selbst unsere Beziehungen zu Toten können sich verändern. Weil wir uns verändern
können, wenn wir wollen.
Die Zeit ist jetzt. Sei da.
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Berlin ist der Obdachlose, der mit zwei Stöcken auf einem Mülleimer so trommelt, dass es klingt wie eine ganze Percussion Band. Berlin ist der Bioladen, in dem lauter Mittelstandskinder ohne größere Sorgen als das Beste aus ihrem Leben zu machen, einkaufen. Berlin ist das Kopfsteinpflaster und der Gasherd. Berlin ist das Social Startup im hippen Büro im gentrifizierten Kiez. Berlin sind die Jungs, die am Kotti unten in der U-Bahn rumstehen, Musik hören und rauchen.
Berlin bin ich.
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Nachwort: Ich habe diesen Text geschrieben, weil ich das Gefühl hatte mich nicht von Berlin lösen zu können. Weil ich Angst hatte ohne Berlin zu ersticken. Mein Gefühl zuhause zu sein, war an diesen Ort gebunden. Diesen schönen und hässlichen und widersprüchlichen Ort. Berlin ist immer noch mein Zuhause. Und das zweite Zuhause bin ich. Weil ich die Chance hatte, mit mir ins Reine zu kommen. Weil ich dabei unterstütz wurde.
Jeder der nicht zuhause ist, sollte dabei unterstützt werden anzukommen. Wir sollten alle überall zuhause sein dürfen.