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#meineweltverändern

Manchmal geschehen im Alltag Dinge, die im ersten Moment Verzweiflung bringen. Und irgendwann zum Handeln zwingen. Mit einem sehr persönlichen Einblick wage ich den ersten Schritt, der Ohnmacht zu entkommen und mit all meinem Mut hinzusehen. Ich lade euch ein, diesen Weg gemeinsam zu gehen.

 

An einem Mittwochabend Ende Januar 2015 sitze ich auf meiner Couch. Müde vom Alltag und froh darüber, endlich entspannen zu dürfen. Draußen ist es kalt. Im Ofen brennt Feuer, das Holz knistert, der Raum ist voll von wohliger Wärme und alles fühlt sich nach Zuhause an.

Ich zappe durch das Fernsehprogramm und bleibe bei der ARD mitten im Primetime-Spielfilm hängen. Es scheint ein Krimi zu sein. Schaut spannend aus. Ich lehne mich zurück, nehme einen Schluck von dem spanischen Roten und lasse mich von den Szenen berieseln.

Mich überkommt eine tiefe Betroffenheit

Es dauert nicht lange, bis es kalt in meinem Zuhause wird. So kalt, dass an Entspannung nicht mehr zu denken ist. Mich überkommt eine Betroffenheit, deren Tiefe ich nicht in Worte fassen kann. Am liebsten würde ich umschalten; warum ich es nicht tue, weiß ich nicht. Sensationslust verspüre ich wahrlich nicht. Wenn ich in diesem Zusammenhang an Lust denke, wird mir schlecht. Richtig schlecht. Vielleicht ist es die Hoffnung auf ein gutes Ende, auch wenn das unmöglich erscheint. Der Film ist aus, meine Gedanken sind gequält, mein Herz ist getroffen.

Im Anschluss folgt ein Themenabend mit Sandra Maischberger. Der letzte Funke Hoffnung stirbt mit der Diskussionsrunde. Die Handlung des Films beruht auf Tatsachen. Maischbergers Gäste bestätigen die realistische Darstellung, deren Zuschauerin ich ungewollt geworden bin.

Ich schalte aus, aber meine Gedanken nicht mehr ab. Ich versuche zu schlafen, finde aber keine Ruhe. Tränen laufen mir über die Wangen – weil ich Teil einer Welt bin, die Unfassbares zulässt. Mein Mutterherz ist gequält von den grausamen Eindrücken. Mir wird bewusst, wie dankbar ich für unser sorgenfreies Leben bin, aber auch, dass ich mit Verdrängen nichts von alldem, was da draußen passiert, ungeschehen machen kann.

Immer wieder holen mich die Bilder ein

Tage, Wochen, Monate später, immer wieder holen mich die Bilder ein. Ich entschließe mich, darüber zu reden. Wenige möchten sich mit mir unterhalten. Oft stoße ich auf entsetzte Blicke und angewiderte Gesten, viele winken ab, sie können die Tiefe der Tragik nicht verkraften. Ich kann das verstehen, würde es auch gern so machen, es geht aber nicht mehr. Das Thema lässt mich nicht los. Als mein Blog #imländle zu jener Zeit die ersten positiven Resonanzen verzeichnet, verspüre ich immer stärker den Drang, diese Möglichkeit zu nutzen, um meine Welt zu verändern. Hinzuschauen und einen kleinen Beitrag mit großer Überzeugung zu leisten.

An jenem Januarabend habe ich den Film „Operation Zucker. Jagdgesellschaft“ gesehen.

Der Film ‚Operation Zucker. Jagdgesellschaft‘ zeigt eine perfide Organisation, die hinter bürgerlicher Fassade ihren Mitgliedern Kinder ‚zur Verfügung‘ stellt. Die Täter gehören zur besten Gesellschaft und werden durch ein Netz von Mitwissern in verantwortlichen Positionen gedeckt.

Der Film beruht auf sorgfältig recherchierten Tatsachen. Die Produzentin Gabriela Sperl, die Drehbuchautoren Friedrich Ani und Ina Jung sowie die Regisseurin Sherry Hormann sind tief eingestiegen in diesen Sumpf von Gewalt, mafiösen Strukturen und schnell verdientem Geld.

UNICEF schätzt, dass weltweit mit Kinderhandel und Kinderprostitution bei stetig steigender Nachfrage mehr Geld verdient wird als mit Waffen. Deutschland ist einer der besten ‚Absatzmärkte‘ für den Handel mit Kindern.

Quelle: Kommentarauszug Volker Herres, Programmdirektor des Ersten, zum Film ‘Operation Zucker. Jagdgesellschaft’.

Ich habe die Möglichkeit, viel mehr als nichts zu tun

Kann ich als Bloggerin gegen solche Strukturen angehen? Nein. Aber ich habe die Möglichkeit, viel mehr als nichts zu tun. Darum google ich und stoße auf den Verein FEUERVOGEL e. V. in Balingen.

FEUERVOGEL geht zurück auf die Initiative von Frauen im Zollernalbkreis. Der Verein setzt sich seit 1994 für Unterstützung und Hilfen im Umfeld der sexuellen Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungen ein. Die Zielsetzung von FEUERVOGEL ist es, sexueller Gewalt durch ein umfangreiches Angebot von Information, Beratung und Vorbeugung entgegen zu wirken.

Quelle Feuervogel e. V.

Im Frühjahr 2016, vor knapp einem Jahr,  nehme ich Kontakt auf und wenige Wochen später besuche ich den Verein in seinen Räumen. Ich darf drei bewundernswerte Menschen kennenlernen: die Mitarbeiterinnen Janine Heckele und Claudia Kanz sowie eine der vier Vorstandsfrauen, Christine Wasner-Gölz. Die erste Begegnung ist von allen Seiten her vorsichtig. Für mich fühlt es sich seltsam an, über das Thema Sexuelle Gewalt an Kindern zu sprechen. Die Frauen sind zurückhaltend, weil sie eines nicht wollen: Sensationsberichte oder gar einen Schnellschuss über Schicksale, die Menschen ihr ganzes Leben mit sich tragen. Unser Gespräch dauert knapp zwei Stunden. Zum Abschied werde ich mit Broschüren und Informationsmaterial versorgt.

Als ich das Gebäude verlasse, fühlt es sich richtig an, was ich tue. Wie ich darüber schreiben werde, weiß ich in diesem Moment noch nicht. Wenige Tage später studiere ich die Informationen und lese:

Wieviele Kinder von sexueller Gewalt betroffen sind, ist schwer zu sagen, da es ein großes Dunkelfeld gibt. Für Deutschland liegen eine Reihe sozialwissenschaftlicher Studien vor, die die Wahrscheinlichkeit für Mädchen zwischen 6 %  und 25 %, für Jungen zwischen 2 % und 8 % angeben. Etwa ein Drittel der von sexuellem Missbrauch betroffener Kinder und Jugendlichen, so wird immer wieder belegt, sind zu Beginn der Übergriffe unter 10 Jahre alt. Von diesen Kindern hat wiederrum ein Drittel das Vorschulalter noch nicht erreicht. In etwa 25 % der Fälle sind Täter und Opfer miteinander verwandt.

Quelle: Feuervogel e. V.: „Ich verbrenne von innen.“

Es folgt ein weitere Besuch bei Frau Kanz und Frau Heckele. Der Empfang ist herzlich und es fühlt sich gut an, mit ihnen zu sprechen. Wir gehen in die Tiefe, unterhalten uns über Beratungsgespräche, Prävention und ihren Arbeitsalltag. Vieles erschüttert, alles bewegt und manches erfreut mich. Ich erfahre, wie geholfen werden kann und dass es auch schöne Momente gibt. Wieder gehe ich mit einem guten Gefühl. Der nächste Termin für ein Treffen steht bereits. Ich bin sehr dankbar, dass ich lerne hinzusehen und mit meinen Möglichkeiten helfen darf.

Der Verein FEUERVOGEL e. V. ist seither mit seiner Arbeit ein fester Bestandteil meiner Arbeit. Ich maße es mir nicht an, laut zum „Hinschauen“ aufzurufen, auch sehe ich davon ab, den Trailer des genannten Films zu präsentieren. Nur weil ich nicht mehr anders kann, darf ich nicht erwarten, dass es anderen ähnlich geht.

Die Welt kann ich nicht ändern, meine jedoch schon

Ich mache es, genauso wie ich den Verein FEUERVOGEL e. V. erlebe, auf sensible Art und Weise kontinuierlich über das Thema sexueller Missbrauch von Kindern  berichten. Neben unumgänglichen Fakten erzähle ich auch von meinen Erkenntnissen, der Arbeit des Vereins und die Thematik allgemein. 

Wer gemeinsam mit mir diesen Weg gehen möchte, ist herzlich dazu eingeladen.

Die Welt kann ich nicht ändern.

Meine Welt jedoch schon.

Petra Nann

#meineweltverändern

Dieser Artikel wurde 2016 bereits auf meinem Blog #imländle veröffentlicht. 

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