Foto: Médecins Sans Frontières (MSF) International

Joanne Liu: „Ein Menschenleben ist billig geworden”

Die Flüchtlinge werden weiter kommen, auch nach Europa, sagt die Chefin von Ärzte ohne Grenzen, Joanne Liu im Interview mit Philip Faigle von Zeit Online. Denn der Westen sei immer zu spät, wenn Krisen auftreten.

Die Angst bestimmt die Politik

Die Inneneinrichtung der Zentrale von Ärzte ohne Grenzen in Genf erinnert an ein Start-up. Viele bunte Farben, moderne Sitzmöbel, weiße Tische. An einem Wandbord neben dem  Empfangstresen stehen Namen von Ärzten, die bald in Krisengebiete reisen werden: in den Kongo, den Jemen, nach Kamerun. Die Chefin der  Organisation kommt persönlich die Treppe herab, um den Interviewer Philip Faigle von unserem Partner Zeit Online abzuholen: Joanne Liu, 51 Jahre alt, geboren in Kanada und Tochter chinesischer Auswanderer, spricht in einem dringlichen Ton. An den  Stellen, die ihr wichtig sind, schlägt sie mit der Hand auf den  Konferenztisch.

Frau Liu, täuscht der Eindruck, dass die Welt gerade verrückt spielt? Es scheint, als ereigneten sich die Krisen immer schneller.

„Ich habe dafür kein Barometer. Aber ich glaube, dass zwei Faktoren den Eindruck verstärken. Früher hat es Wochen, vielleicht Monate gebraucht,
bis uns eine Krise erreicht hat. Heute, in Zeiten von Social Media,
passiert das über Nacht. Hinzu kommt: Die jüngsten Krisen im Mittleren
Osten, im Irak, im Jemen, in Syrien haben eine Flüchtlingskrise
ausgelöst, die plötzlich vor unserer Haustür stattfindet.”

Das Elend nimmt nicht zu, es rückt uns Europäern nur näher?

„Dass Millionen Menschen ihr Land verlassen müssen, ist kein neues Phänomen. Es hat sich nur verstärkt durch das, was in der Welt  geschieht. Noch vor fünf, sechs Jahren hatten wir 40 Millionen  Vertriebene auf der Welt. Heute sind es mehr als 60 Millionen. Flüchtlingscamps wie Dadaab in Kenia gibt es seit Jahrzehnten.”

Welche Katastrophen übersehen wir gerade, weil sie fernab unserer Wahrnehmung liegen?

„Der Südsudan erlebt eine entsetzliche Krise, vielleicht die schlimmste auf der Welt. Im Tschad gibt es eine Hungersnot, die in ihrer Dimension an Somalia im Jahr 1992 erinnert. Wir wissen, dass es einer halben Million Menschen dort an Grundsätzlichem fehlt: Wasser, Essen, Schutz. Die Flüchtlingsbewegungen der jüngsten Zeit haben uns gezeigt, dass wir eng mit diesen Krisen verbunden sind. Das bedeutet, dass der jetzige Reaktionsmechanismus der Politik ein Problem ist.”

Inwiefern?

„Anstatt die Probleme zu lösen, wenn sie auftreten, reagiert die Politik erst, wenn nationale Interessen betroffen sind. In einer Welt, die immer enger verbunden ist, bedeutet das aber, dass man immer zu spät kommt. Das war im Fall Ebola so, als wir erst Gehör fanden, als es erste Fälle in den USA und Europa gab – obwohl wir schon sechs Monate vorher gewarnt hatten. Und es wird bei anderen Krisen wieder so sein. Die Krisen der Welt werden zunehmend durch die Brille nationaler Sicherheitsinteressen gesehen. Das Gefühl, das Handlungen auslöst, ist immer öfter: Angst. Die Welt, so ist mein Eindruck, leidet unter einem globalen Angstsyndrom.”

Was meinen Sie damit?

„Angst ist gerade weltweit das Gefühl, das die Politik bestimmt. Alle sind verdammt ängstlich, wir sind gekidnappt von diesem Gefühl. Nehmen Sie das Beispiel Ebola. Wir hatten Tausende Fälle in Westafrika, aber als der erste Fall in den USA ausbrach – was war das für ein Aufschrei! Ein Außerirdischer hätte annehmen können, diese Tragödie spielt sich in den USA ab, nicht in Afrika.”

Die Angst vor Ebola gab es auch in Europa. Wenn die Gesellschaften wirklich ängstlicher werden, wie erklären Sie sich das?

„Ich kann es Ihnen nicht sagen. Vielleicht aus den gleichen Gründen, aus
denen den die Menschen Horrorfilme schauen? Manchmal habe ich den Eindruck, die Menschen finden fast schon Gefallen daran, sich zu ängstigen. Als gäbe es ihnen einen Grund, warum sie existieren.”

Welche Folgen hat dieses Gefühl der Angst für Ihre Arbeit?

„Es ist ungemein schwierig geworden, Menschen davon zu überzeugen,
dritten Personen oder Staaten in Not zu helfen. Und ich glaube, dass hat auch mit Angst zu tun. Angst vor dem Unbekannten oder davor, nicht den Willen der Bevölkerung zu repräsentieren. Als wir vor Ebola warnten, bekamen wir gesagt: Geht dorthin, aber bringt es bloß nicht zurück hierher! Als wir dann an der Frontlinie waren, baten wir um die Garantie, dass unsere Leute repatriiert werden, wenn sie krank werden. Wir haben diese Garantie niemals bekommen.”

Sie konnten die kranken Mitarbeiter nicht in Sicherheit bringen?

„Wir mussten jeden Krankheitsfall einzeln verhandeln. Die meisten von unseren Mitarbeitern wurden herausgebracht. Das galt aber nur für die internationalen Mitarbeiter, nicht für die Einheimischen.”

In Europa reagieren gerade viele Bürger mit Weltflucht auf die schlechten Nachrichten. Verstehen Sie das?

„Ich kenne diese Haltung. Ich glaube nicht, dass sie nachhaltig ist. Wir sind schon jetzt in eine Situation geraten, in der ein Menschenleben billig geworden ist. 3.000 Menschen ertrinken im Mittelmeer? Oh, okay, nächste Nachricht. Ich finde das auf eine negative Art faszinierend. Denn natürlich kann jeder immer etwas tun”

Das ist für Sie als Chefin einer Hilfsorganisation mit mehr als 35.000 Mitarbeitern leichter zu sagen. Die Möglichkeiten eines normalen Bürgers sind begrenzter.

„Ich komme gerade von der internationalen Aids-Konferenz in Durban in Südafrika zurück. Die Zivilgesellschaft geht dort schon lange für billigere Aids-Medikamente auf die Straße, unter anderem mit der Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen. Und wissen Sie was? Sie hat es geschafft. Der Preis ist von 14.000 auf unter 100 Dollar gefallen. Die Zivilgesellschaft hat im Fall von HIV ungemein viel erreicht. Es ist schlicht falsch zu behaupten, der Einzelne könne nichts ausrichten.”

Der Mensch, der vor der Nachricht von den 3.000 Toten im Mittelmeer sitzt: Was kann er tun?

„Er könnte die Regierung seines Landes dazu auffordern, diese Politik zu ändern. Sie mögen das naiv finden, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein solcher Protest Wirkung zeigt. Die Bürger Kanadas, meines Heimatlandes, haben mit ihren Protesten verhindert, dass wir am Irak-Krieg teilnehmen. Die Politik hat sich damals der Stimme des Volkes gebeugt.”

Eine weitverbreitete Meinung dazu lautet: Wenn wir die Menschen retten, wie es auch Ärzte ohne Grenzen mit verschiedenen Booten tut, kommen noch mehr Flüchtlinge.

„Unsere Zahlen zeigen, dass das nicht stimmt. Das ist auch folgerichtig, denn die sogenannten Pushfaktoren, die Fluchtgründe, sind die gleichen geblieben. Wir haben nichts unternommen, um das Ausmaß der Gewalt in Syrien zu senken. Wir haben die Sicherheit in Afghanistan nicht verbessert. Wir haben nicht die Bedingungen unter dem Regime in Eritrea geändert. In Nigeria haben wir dramatische Sterblichkeitsraten von Kindern. Die Menschen aus diesen Ländern rennen um ihr Leben. Sie werden immer einen Weg finden. Auch die
Gründe, warum diese Menschen nach Europa kommen, sind die gleichen geblieben: Wir sind nicht ärmer geworden, wir sind weiterhin vergleichsweise reich”

Die Europäische Union hat mit dem EU-Türkei-Deal die Hauptfluchtroute des vergangenen Jahres geschlossen. Was bedeutet das Abkommen aus Ihrer Sicht für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien?

„Ich halte erst einmal fest: Wir haben eine Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951, die ein Recht auf Schutz für Flüchtlinge vorsieht. Wir kommen dieser Verpflichtung gerade nicht nach. Das hat Folgen. Wir sehen zum Beispiel die dramatische Lage der Flüchtlinge in Berm …”

… einer Region an der Grenze zwischen Jordanien und Syrien, in der Hilfsorganisationen rund 60.000 syrische Flüchtlinge vermuten.

„Ein rechtloser Ort. Dort leben seit dem 21. Juni Menschen ohne Essensversorgung. 65 Prozent sind Kinder und Frauen. Das Einzige, was sie haben, sind Stacheldraht und Wasserlöcher, die man für sie gegraben hat. Wir haben keinen Kontakt zu diesen Menschen, wir können nicht helfen. Ich habe keine Ahnung, wie diese Kinder und Frauen gerade ohne Essen überleben. Was
werden wir vorfinden, wenn wir irgendwann aufwachen und wieder dorthin
vordringen? In Europa mag man denken, dass die Dinge nicht existieren, nur weil es gerade keine Bilder gibt. Sie existieren aber.”

In Europa – speziell in Deutschland –  haben viele das Gefühl, dass schon zu viele Flüchtlinge gekommen sind. Die Politik der Abschottung ist populär.

„Mittlerweile bekomme ich in Europa zu hören, dass es an politischen Selbstmord grenzt, etwas Gutes für Flüchtlinge zu tun. Ich bin nicht naiv. Ich glaube nur daran, dass wir eine politische Lösung für diese schweren Krisen finden müssen, dass wir nicht die Augen vor allem verschließen dürfen. Es muss eine dritte Option zwischen dem Weg heute und der totalen Hilfsbereitschaft geben. Kennen Sie zufällig das Buch Essence of Decision?”

Leider nein.

„Es handelt sich um Graham T. Allisons Analyse über die Kuba-Krise. Darin wird beschrieben, wie sich Präsident Kennedy nach dem Angriff auf die Schweinebucht verhalten hat. Er schien damals nur zwei Möglichkeiten zu haben: Entweder er steht als schwacher Führer da oder aber er startet einen dritten Weltkrieg mit Nuklearwaffen. Kennedy sagte damals: Ihr bringt mir eine bessere, dritte Lösung. Genau an eine solche politische Lösung glaube ich heute auch.”

Dieser Text ist zuerst auf Zeit Online erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

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