Foto: Bernard Gagnon

Leben in der Notunterkunft: Und plötzlich steht man für einen Deo-Roller an

Lilja hilft ehrenamtlich in der Kleiderkammer einer Notunterkunft für Flüchtlinge – und hat nun mit Menschen zu tun, die plötzlich gezwungen sind, sich mit einem völlig neuen Leben zu arrangieren.

 

Anstehen für Schuhe und Decken

Mit einem Wägelchen, auf dem sich ein Kasten mit Karteikarten befindet, die mit Nummern beschriftet sind, stehe ich im Flur vor der Kleiderkammer der Notunterkunft für Geflüchete in Berlin-Wilmersdorf.

Ich begrüße alle Bewohner mit einem Lächeln. „Hallo, ahlan-wa sahlan, salam!“ Ich strahle gute Laune aus, um etwas abzumildern, dass diese Menschen, die vor dem Krieg ein selbstständiges, hoffentlich gutes Leben führten, sich nun anstellen müssen, um einen Deo-Roller zu bekommen.

Nachdem ich nun mehrmals ehrenamtlich in der Notunterkunft ausgeholfen habe, kenne ich allmählich die Abläufe in der Kleiderkammer für die Frauen: Jede Bewohnerin bekommt eine Nummer zugeteilt und auf einer Karteikarte wird per Strichliste festgehalten, was sie sich ausgesucht hat, von Decken bis zu Hygieneartikeln. Jedes Mal bin ich aufs Neue von der Geduld und der Freundlichkeit überrascht, mit der sich die Bewohner und Bewohnerinnen in diese Vorgänge einfügen, um endlich einmal mit Duschgel duschen zu können, sich dringend benötigte Kleidung oder Schuhe auszusuchen. Dank der vielen Ehrenamtlichen, die dort teilweise jeden Tag verbringen, läuft die Organisation von Tag zu Tag besser, und nach einigen Wochen kennt man sich, weiß, welche Bewohnerin gerade ihr Kind bekommen hat, wer abgereist ist und so weiter.

Dutzende Menschen passieren während einer Schicht meinen kleinen Begrüßungspunkt, Männer, Frauen, Kinder. Viele Bewohner können mir ihre Identifikationsnummer schon in perfektem Deutsch mitteilen und tauschen mit mir die ersten deutschen Sätze aus. Ab und zu wird gescherzt, die kleineren Mädchen spielen mit der glänzenden Schnalle meines Mantels.

Immer wieder erwischt mich dieser eine Moment, in dem ich die verdammte Zufälligkeit des Lebens begreife, die mich auf der anderen Seite der Kleiderausgabe stehen lässt.

Vor mir steht eine junge Frau, ungefähr im gleichen Alter wie ich, aus Damaskus, trotz der rationierten Duschen ist sie perfekt frisiert. Sie muss warten, die herbstlich werdende Berliner Zugluft lässt sie erschaudern, es dauert, bis die Frauen vor ihr die Kleiderkammer durchstöbert haben. Wir unterhalten uns, tauschen die wichtigsten Eckdaten über uns aus, und ich merke, dass sie eindeutig besser Englisch spricht als ich selbst. Ihr Handy klingelt, sie nimmt den Anruf an.

Und in dem Moment sehe ich diese so zielstrebig wirkende junge Frau in einem Leben, das viel besser zu ihr passen würde: im Transitbereich irgendeines Flughafens, im Businessoutfit mit schickem Mantel und Rollkoffer, am Telefon zu einem Geschäftspartner aus Tokio/ New York/ Beirut sprechend. Doch sie steht vor mir, in einem kühlen Flur in der Notunterkunft Berlin-Wilmersdorf. Eine andere Helferin nimmt sie nun mit in die Kleiderkammer. Nachdem sie fertig ist, bedankt sie sich im Vorbeigehen. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, wofür eigentlich, und verharre einen Moment. Mir bleibt nach dieser flüchtigen Begegnung nichts weiter übrig, als zu hoffen, dass diese junge Frau in meinem Heimatland eine Zukunft findet, ein gutes Leben für sich und ihre Familie.

Und inshallah, eines Tages wieder in einem friedlichen Damaskus spazieren gehen kann.

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