Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Natalie Grams
Erste Untersuchung – und gleich die Pille verschrieben
Die Teenager-Tochter einer guten Freundin, die Apothekerin ist, war kürzlich zum ersten Mal bei der Gynäkologin. Eigentlich nur zum ersten Kennenlernen und Untersuchen, zurück kam sie jedoch mit der Pille. In einem hübschen Schächtelchen, schick designed, alles easy. Meine Freundin war völlig perplex, rief mich an und wir tauschten uns aus. Für die Tochter meiner Freundin ging es noch gar nicht um das Thema Langzeitverhütung. Für uns war nicht nachvollziehbar, warum eine Pille, und noch dazu eine der neuen Generation, so rasch und ohne große Aufklärung verordnet wurde („Kann Thrombose machen, aber vor allem die Haut schön!“).
Dabei fiel uns auf, dass wir wohl zu einer „alten Pillengeneration“ gehören. Für uns war die Pille notwendiges Mittel zum Zweck, wir nahmen sie, weil es eben sein musste, litten unter den Nebenwirkungen, nahmen sie in Kauf, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern und waren elend froh, sie irgendwann nicht mehr nehmen zu müssen, als die Familienplanung begann. Die Pille als Verhütungsmittel gibt’s seit 1961. Sie funktioniert über eine Kombination von Hormonen, die dem Körper vorgaukeln, bereits schwanger zu sein – und dadurch nicht mehr schwanger werden zu können. Verwendet werden verschiedene Hormonkombinationen, die im Laufe der Zeit immer neu kombiniert und niedriger dosiert wurden, vor allem, um die Verträglichkeit zu steigern und Risiken zu minimieren. Denn wie alle potenten Arzneimittel hat die Pille auch unerwünschte Wirkungen.
Konkretes Risiko: Thrombose
Gefürchtet sind schlimmstenfalls neben emotional-seelischen Veränderungen wie depressive Verstimmungen, Depressionen und sogar Selbsttötungsgedanken auch Libidoverlust, Kopfschmerzen, Zwischenblutungen, Schmerzen in den Brüsten oder – weitaus weniger schlimm, aber immer noch belastend – Übelkeit. Konkretestes Risiko ist aber vor allem das Auftreten von sogenannten venösen Thromben. Das sind verschleppte Gerinnsel im Blut, die lebenswichtige Gefäße verstopfen und beispielsweise zu Lungen- oder Hirnembolien führen können. Eine lebensbedrohliche, mitunter tödliche und nicht zu unterschätzende Gefahr. Und genau dieses schlimmste Risiko lässt sich durch eine Dosisreduktion der Östrogen-Komponente und durch die Auswahl eines risikoarmen Gestagens vermindern.
Es ist so: Alle Pillen, die als Wirkstoff ein Östrogen und ein Gestagen enthalten, verhüten etwa gleich zuverlässig. Sie unterscheiden sich allerdings in ihrem Risiko, ein solches Blutgerinnsel und dadurch lebensbedrohliche Verschlüsse von Blutgefäßen auszulösen. Der Unterschied wird verursacht durch den jeweiligen Gestagen-Bestandteil. Bei „modernen Pillen“ der so genannten 3. und 4. Generation ist das Risiko für Thrombosen und Embolien im Schnitt doppelt so hoch wie bei Präparaten der 2. Generation mit einem verträglicheren Gestagen wie Levonorgestrel. Das ganze Generationen-Ding hat man eingeführt, weil man sich von neueren Pillen eigentlich eine Verbesserung, eine Evolution, erhofft hat, aber nach der Überprüfung der wissenschaftlichen Daten hat sich gezeigt, dass es bei allen Pillen der neuen Generationen zu höheren Risiken kam. Also sehen die neuen Generationen eigentlich ziemlich alt aus.
Neu ist nicht automatisch besser
Analysen von Verordnungsdaten beispielsweise der Techniker Krankenkasse zeigen, dass ab dem 17. Lebensjahr schon mehr als die Hälfte der jungen Frauen die Pille nimmt, mit 19 Jahren sind es schon über 80 Prozent – und zwar meist eine der neuen, also der 3. und 4. Generation. Bei diesen Präparaten, beispielsweise solche mit dem Hormon Drospirenon, ist das Risiko für venöse Thromboembolien deutlich höher als bei den bewährten Pillen , in denen als Östrogenanteil Ethinylestradiol und als Gestagenanteil Levonorgestrel, Norgestimat oder Norethisteron kombiniert sind. Neu ist hier nicht automatisch besser – im Gegenteil handelt es sich hier um einen der nicht seltenen Fälle in der Medizin, in dem altes Wissen und alte Mittel besser sind als Neues und angebliche Innovationen.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte rät deshalb schon seit 2013 von einer Erstverordnung einer „neuen Pille“ bei jungen Frauen ab und hat im März 2014 entschieden, dass in den Fachinformationen für Ärzt*innen und Apotheker*innen sowie in der Packungsbeilagen („Beipackzettel“) für die Mehrzahl der Pillen der 3. und 4. Generation auf das größere, mitunter doppelt so hohe Thromboserisiko hingewiesen werden muss. Das wird seither auch getan, aber die gelebte Praxis zeigt sich in anderen Zahlen: Die neuen Pillen wurde lange Zeit trotz der Sicherheitsbedenken und ausdrücklichen Warnungen seit ihrem Markteintritt immer mehr verordnet – und immer früher. Im Dezember 2018 wurde übrigens bekannt, dass zu den kritischen Gestagenen auch das Dienogest gehört, das sich in der aktuell meistverordneten Pille „Maxim“ neben einem Östrogen befindet und über das die Herstellerfirma Jenapharm bisher immer behauptet hatte, es sei vom Risiko her mit dem Levonorgestrel in den Pillen der 2. Generation vergleichbar.
Tausende betroffene Frauen mehr
Die neuen Daten zeigen, dass diese Einordnung nicht stimmt, sondern auch Maxim zu den risikoreicheren Pillen gehört. Da aber allein in Deutschland etwa sechs bis sieben Millionen Frauen Jahr für Jahr die Pille nehmen, haben auch gering erscheinende Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit von Blutgerinnseln und Lungenembolien erhebliche Folgen für die Häufigkeit in absoluten Zahlen. Hier geht es um Tausende betroffene Frauen mehr! Alle Statistik ist wertlos, wenn man diejenige ist, die die Embolie trifft. Sehr eindrücklich nachzulesen unter dem Schlagwort „Mythos Einzelfall“ in Selbsthilfe- und Aufklärungsforen der Geschädigten. In den USA wurden Hersteller*innen bereits von mehr als 10.000 Betroffenen verklagt, die Nebenwirkungen wie Thrombosen, Lungenembolien und Schlaganfälle erlitten hatten.
Leider gab es aber bisher keinen Gerichtsprozess mit einem klaren Urteil, die Firmen einigten sich außergerichtlich mit den Frauen, um ein Urteil zu vermeiden, auf das sich andere Frauen beziehen könnten. Auch in Deutschland wurde bereits dagegen geklagt, dass auf das erhöhte Thromboseriskio nicht oder nur unzureichend hingewiesen wird und dadurch eine lebensbedrohliche Embolie auftrat. Leider ist der Prozess aber bisher nicht entschieden. Auch hier wurde vom Gericht eine außergerichtliche Regelung empfohlen, die geschädigte Frau möchte aber endlich ein Urteil erreichen, um anderen Frauen auch Mut zu machen, gegen den starken „Gegner“ Pharmaindustrie, in diesem Fall gegen die Firma Bayer, angehen zu können. Natürlich sind Beweise in jedem bedauerlicherweise Einzelfall zumeist schwierig, denn die Statistik zeigt nur Wahrscheinlichkeiten und nicht Kausalität.
Wieso dringen die Warnungen nicht durch?
Zwei Filme der ARD „Risiko Pille – Was wir wussten“ und „Todkrank durch die Pille“ arbeiten das Dilemma in halbdokumentarischer Weise und als Spielfilm auf. Doch irgendwie dringen all diese Warnungen nicht wirklich durch. Offenbar auch nicht zur Frauenärztin der Tochter meiner Freundin, was ich wirklich bedenklich finde. Sie ist schließlich die Fachfrau, die darüber entscheidet, welche Pille die jungen Mädchen oder Frauen einnehmen!
Also: Reboot the System. Wir müssen vor allem noch mehr aufklären und die Gefahren sichtbar und bekannt machen. Denn nach allem, was wir wissen, werden offenbar mehr und mehr junge Frauen auf die riskanteren „neuen Pillen“ gesetzt, allen Risiken zum Trotz und obwohl die alten Pillen der 2. Generation genauso wirksam sind, was die Verhütungssicherheit angeht. Und die traurige und einfache Antwort darauf, warum das so geschieht, ist: Marketing.
Eigentlich ist in Deutschland die Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel verboten. Und die Pille ist verschreibungspflichtig. Doch die Pharmaindustrie ist schlau darin, ihre Marketingbotschaften an die Zielgruppe der jungen Frauen heranzubringen. Dank Internet und Influencerinnen gelingt das auch recht gut. Weil Haare schön, Busen doll und überhaupt alle happy. Videos auf Instagram und Youtube von glücklichen Userinnen, scheininformative Webseiten, die nicht wirklich über das Risiko, aber über allerlei anderes informieren, jugendliche Sprache und Aufmachung und teils kleine Beauty-Gadgets sorgen mit dafür, dass die Pille nicht mehr als potentes und nebenwirkungsbehaftetes Hilfsmittel zur Verhütung gesehen wird, sondern als trendy, easy Must-have, das auch die Haut strahlen lässt. Puh!
Marketing und Hochglanzbroschüren
In diesem Fall ist es gut gegangen, meine Freundin wusste als Apothekerin über die Risiken Bescheid und hätte ihrer Tochter eine andere Pille geben können, beziehungsweise erstmal gar keine, denn es gibt ja auch nicht-hormonelle Möglichkeiten zur Verhütung. Zumal hier der „Grund“ überhaupt noch nicht so drängend war, dass gleich an eine dauerhafte Verhütung gedacht werden musste. Doch offenbar wusste die Fachfrau Gynäkologin hier entweder nicht Bescheid über die Risiken der neueren Pillen oder sie ließ sich von etwas anderem leiten als der wissenschaftlichen Risiko-Nutzenabwägung (Marketing, Hochglanz-Broschüren der Hersteller*innen).
Also, lasst uns an der Stelle und in der Situation klar bleiben und festhalten – wichtig und zum Weitersagen: Pillen mit dem Gestagen Levonorgestrel sollten – wenn überhaupt – aufgrund ihrer besseren Nutzen-Schaden-Bilanz bevorzugt verordnet und eingenommen werden, wenn es keine wichtigen Gründe gibt, die dagegen sprechen (in erster Linie Unverträglichkeitsreaktionen, die aber zumeist nach drei Monaten wieder vergehen). Gerade auch Erstanwenderinnen wie der Tochter meiner Freundin sollten diese Präparate verschrieben werden. Meist wird die Pille dann ja über viele Jahre hinweg eingenommen und da summiert sich das Risiko auf.
Und noch wichtiger: Die Pille ist ein Mittel, das gesunden Frauen gegeben wird, um eine ungewünschte Schwangerschaft zu verhindern, nicht primär ein Medikament, das kranke Frauen als Therapie oder zur Symptomlinderung einnehmen müssen. Die Risikoabwägung der Nebenwirkungen muss hier also immer ganz anders und deutlich kritischer vorgenommen werden; die Pille ist kein Heilmittel. Aber bitte versteht mich auch nicht falsch: Als Verhütungsmittel ist die Pille natürlich wirksam und oftmals unverzichtbar; sie hat die Selbstbestimmung der Frau, die Emanzipation, mit ermöglicht und viel Leid verhindert. Wohlgemerkt als Arzneimittel, nicht als Lifestyleprodukt. Die gute Nachricht zum Schluss: Neueste Zahlen zeigen, dass die Verordnungen der „neuen Pillen“ zum Glück leicht zurückgehen .
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).