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Neben der Spur: Verstecken gilt nicht!

Vorsätze, um sich selbst und das eigene Leben zu optimieren, gehören zum Beginn eines neuen Jahres wie das Amen zum Vaterunser. Dass Menschen nicht alle davon umsetzen können, ist nicht nur beruhigend normal, sondern zutiefst menschlich. Ein Plädoyer für Ecken, Kanten und Umwege.

 

Zum neuen Jahr nehmen die meisten Menschen sich viel vor – oftmals mehr, als sie realistisch schaffen können. Endlich wieder mehr Sport machen, sich vegan ernähren, nur noch in Ausnahmefällen Alkohol trinken und eine Nacht durchmachen, damit der unschöne Kater ausbleibt. Dem Staub und den Bakterien auch in den unsichtbarsten Ecken des Hauses den Nährboden entziehen und von Back-Noob zum Meisterbäcker zu mutieren. Oder auch: härter werden, im Job vorankommen und nicht mehr so empfindlich gegenüber diversen ätzenden Zeitgenossen sein. Dabei sollen wir aber bitte schön auch nicht vergessen, uns selbst so zu lieben wie unsere Nächsten und immer freundlich zu lächeln.

Im Klammergriff des Perfektionismus

Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Allein schon die tägliche To-do-Liste zwischen kosmetischen „Schönheitsreparaturen“, Kinderturnen, Zahnarztterminen, Kita-Veranstaltungen, dem wöchentlichen Tennismatch, Putzplänen und beruflichen Anforderungen lässt oftmals unwillentlich den Blutdruck steigen. Zwischen zwei Terminen im Stau stehen – kein Problem. Ärger mit der ewig zickigen Kollegin, die keine Gelegenheit auslässt, eine spitze Bemerkung abzulassen – einfach an sich abprallen lassen. Quengelige Kinder, die auch nach Konsultation diverser Erziehungsratgeber und über das Babyalter hinaus einfach nicht durchschlafen wollen – wer wird denn da genervt sein? Und diese Augenringe, die durch das ganze Brimborium entstehen, lassen sich doch mit ein paar Handgriffen überschminken. Für einen „Bad Hair Day“ nach einer absolut miesen Nacht mit Albträumen und Unterleibskrämpfen gibt es ja heutzutage schicke Stirnbänder und Mützen. Hauptsache, man lässt sich nichts anmerken und macht weiter wie zuvor – lächeln und winken, lächeln und winken. Schokoladenfrustessen gilt übrigens nicht als Gegenmittel, denn man hatte ja diesen guten Vorsatz, endlich mal weniger zu naschen … Kurz: Eigentlich wollte man sich dieses Jahr in Superman und Wonderwoman in Personalunion verwandeln. Alles schultern, alles schaffen, alles „mit links erledigen“. Ohne eine Spur von Überforderung oder Ärger, versteht sich. So überspitzt diese Beispiele sind: Hält uns der eigene Perfektionismus nicht alle ein wenig in seinem Klammergriff fest und hindert uns daran, einfach mal das zu machen, was uns selbst ausmacht oder was wir gern tun? Hand aufs Herz – warum tun wir uns das immer wieder an?

Angst, Spuren zu hinterlassen

Es ist schon irgendwie verrückt mit der Spezies Mensch. Jeder will Spuren hinterlassen, die an ihn oder sie erinnern. Doch dennoch haben die allermeisten Mitglieder unserer Industriegesellschaften Angst davor, selbst durch die Spuren gezeichnet zu sein, die das Leben eben mit sich bringt. An jeder Bushaltestelle lächeln uns perfekte junge Männer und Frauen entgegen, eine unschätzbare Zahl an Ratgebern für diverse reale und erfundene Lebenssituationen bildet uns in der Kunst, jede Herausforderung souverän und scheinbar mühelos zu meistern und auf Youtube lernen wir dank Influencer-Vloggern, wie man uns unsere Müdigkeit nach einer durchzechten Nacht oder einer stressigen Woche garantiert nicht mehr ansieht. Beraterinnen auf Putz- , Sextoy-, Dessous- und Tupperpartys weihen Millionen Frauen (und manche Männer) in die hohe Kunst ein, ihren Haushalt, ihr Liebesleben und ihre Koch- und Backkünste auf ein Allzeithoch zu steigern. Zuletzt messen Fitnessarmbänder zu jeder Zeit, ob wir denn auch genug Bewegung, Vitamine und Schlaf getankt haben – nur dass das Armband Unerwartetes nicht berechnen kann. Gemessen an einer Vielzahl gesellschaftlicher Ideale, die dazu noch parallel vorherrschen, hat wohl jeder Mensch dringenden Nachholbedarf. Die dahinterliegende Frage ist doch: Muss man wirklich auf allen Ebenen „Top 10“ sein oder reicht es einfach aus, sich eigene Prioritäten zu setzen?

Eine Gesellschaft neben der Spur

Welchen Weg wollen wir eigentlich gehen, unseren eigenen oder den eines anderen Menschen? Ist es wirklich notwendig, schon Monate nach der Geburt eines Kindes wieder „in Topform“ zu sein und alle Kampfspuren des Alltagswahnsinn unter „50 Shades of Nude“ zu verstecken? Was bringt einem Menschen „der Orgasmus seines Lebens“, wenn Intimität dadurch zum Hochleistungswettkampf wird? Und warum ist es eigentlich so schlimm, wenn nicht alle Teller im Geschirrschrank zueinanderpassen oder die Möbel Spuren von Katzenkrallen aufweisen? Wann haben wir eigentlich begonnen, der Welt immer nur unsere Schokoladenseite zu zeigen (auch wenn Schokolade an sich für viele Ernährungsberater der Teufel in Alufolie ist)? Glauben diejenigen, die in sozialen Netzwerken ständig ihre #perfectmoments posten, wirklich daran, dass der Rest der Netzgemeinde ihnen ihre perfekte (Schein-)Welt bedingungslos abkauft? Wem wollen wir durch das Verschweigen und Verstecken von Durststrecken und Schwächen eigentlich etwas beweisen, wenn doch jeder seine eigene Lebensrealität nur zu gut kennt? Ein wenig erscheint es mir wie auf den Weltmärkten – jeder will „Marktführer“ sein, immer, mit all seinen Produkten. Dass dieser Werbetrick schon in der Wirtschaft selten aufgeht, ist hinlänglich bekannt. Was hingegen „zieht“, ist die aktuellen Erkenntnissen die Einzigartigkeit und Authentizität einer Marke. Betrachtet man das „Ich“ als Marke, wie es diverse Karrierecoaches immer fordern, kann es also gar nicht schlecht sein, besondere Stärken, aber eben auch Ecken, Kanten und Eigenheiten zu haben. Eine Jeans ist ja auch nicht „kaputt“, nur weil ihr Design ein paar Abschürfungen und Löcher vorsieht. Sie ist dann „rugged“, „destroyed“ oder „casual“. Ein Ausdruck von Coolness und Leichtigkeit – who cares? Und auch wenn ich prinzipiell kein Anhänger von Marken als Lebensinhalt bin – nehmen wir uns doch hier ein Beispiel an den Jeansherstellern. Gönnen wir uns ein wenig Abstand zu dem, was wir als „Must-have“ für ein erfolgreiches, erfülltes Leben bisher für selbstverständlich gehalten haben. Hinterfragen wir, für welche „Zielgruppe“ wir eigentlich da sein wollen und wie wir uns nicht perfekt, aber authentisch und lebensecht zeigen können. Denn bleibende Spuren hinterlassen nicht diejenigen, die ihre Alleinstellungsmerkmale verschämt verbergen, sondern die Menschen, die Vielfalt schätzen, leben und feiern.

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