Es galt als sicherer Wahlsieg, doch die britische Premierministerin Theresa May hat sich mit ihren vorgezogenen Neuwahlen für das Unterhaus anscheinend ziemlich verkalkuliert.
Die Rechnung der Neuwahlen ist für Theresa May nicht aufgegangen
In gerade einmal zehn Tagen, am 19. Juni, sollen die Brexit-Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU starten. Die vorgezogenen Neuwahlen im Unterhaus, dem das britische Parlament am 19. April, nach Vorschlag Theresa Mays, zugestimmt hatte, sollten die absolute Mehrheit der Tories ausbauen und sie damit für die bevorstehenden Verhandlungen mit der EU im Bezug auf den Brexit weiter stärken. Das war zumindest der Plan der konservativen Regierungschefin. Und lange Zeit sah es auch so aus, als würde ihr Kalkül perfekt aufgehen. Doch die Wähler machten ihr gestern einen deutlichen Strich durch die Rechnung.
Vor den Neuwahlen hatte die konservative Partei 338 Sitze im Unterhaus und damit eine absolute Mehrheit, um diese absolute Mehrheit zu halten, bräuchten sie mindestens 326 Sitze, voraussichtlich werden sie nun aber, laut aktuellen Hochrechnungen des Guardian, nur 318 Sitze erhalten. Die absolute Mehrheit ist damit verspielt, statt „Stärke und Stabilität”, die May im Wahlkampf immer wieder versprach, scheint nun eher das Chaos zu regieren. Denn das britische Parlament ist nicht für so einen Fall gemacht, es ist auf absolute Mehrheiten angelegt. Wenn keine Partei, traditionell Labour oder Tories, diese erreichen, kann es zu einem sogenannten „Hung Parliament” kommen, in dem erst einmal die Partei mit der relativen Mehrheit eine Koalitions- oder Minderheitsregierung bilden kann. Vor dieser Aufgabe steht nun aller Wahrscheinlichkeit nach Theresa May. Sollte ihr und der Konservativen Partei das nicht gelingen, könnte sogar Jeremy Corbyn mit seiner Labour-Partei neuer Premierminister werden. Dieses Szenario ist allerdings sehr unwahrscheinlich – aber seit den Wahlen gestern eben nicht mehr unmöglich. Sollte May keine Koalitions- oder Minderheitsregierung formen können, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie zurücktreten wird.
Wo lagen die Fehler?
Wie konnte es also, aus Sicht der Konservativen, zu diesem Wahldebakel kommen? Viele Experten, aber auch Parteikollegen werfen Theresa May vor, einen unglaublich schlechten Wahlkampf geführt zu haben. Sie sei arrogant und unnahbar aufgetreten. Das brachte ihr auch den Spitznamen „Maybot” ein. Abgesehen von der Frage, ob dieser Spitzname auch einem männlichen Premierminister gegeben worden wäre, lassen sich Fehler von Seiten Mays und ihrem Wahlkampfteam nicht leugnen. Das Datenanalyse Institut „Sky Data” machte einen Wandel der Wähler vor allem ab dem Zeitpunkt aus, als May ihre Pläne für das Gesundheitssystem bekannt gab und zum Beispiel pflegebedürftige Rentner finanziell stärker belasten wollte. Einen Vorschlag, den sie zwar später wieder zurücknahm, der aber trotzdem für viel Kritik sorgte.
Was den Erdrutschsieg Mays aber sicherlich auch verhinderte, war die Tatsache, dass Jeremy Corbyn als Labour-Kandidat einen sehr viel besseren Wahlkampf führte als von ihm erwartet wurde. Corbin, der aus dem sehr linken Flügel der Labour-Party kommt, wurde sogar von eigenen Parteimitgliedern abgesprochen, ein guter Premierminister sein zu können. Und trotzdem ist es ihm gelungen, zu verhindern, dass die Labour-Party mit den Neuwahlen in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwindet. Wie? Experten sind davon überzeugt, dass es vor allem an seinem entschiedenen Auftreten und seinen konkreten Reformansätzen lag. Er schaffte es, die Wähler davon zu überzeugen, dass er wirklich hinter seinen eigenen Versprechen steht. Und gewann damit vor allem unter jungen Wählern neue Stimmen. Insgesamt erkämpfte er, im Vergleich zu 2015, 10 Prozent mehr Stimmen für die Labour-Party.
Lernen für die Bundestagswahl?
Die vorgezogenen Neuwahlen könnten Teresa May ihre politische Karriere gekostet haben – auch wenn sie gerade durch ihren Sprecher bekannt gab, dass sie eine neue Regierung bilden will –, und sie haben die Verhandlungen über den Brexit höchstwarscheinlich, sowohl für die Briten als auch für die EU, erschwert. Darüber hinaus haben die Neuwahlen vor allem zwei interessante Faktoren deutlich gemacht, die auch für die anstehende Bundestagswahl relevant sein könnten:
Den Wählern ging es bei der Wahl nicht primär um den Brexit, sondern um andere innenpolitische Themen. Eine Umfrage des Sky-Data-Instituts zeigte, welche Themen wirklich wahlentscheidend waren: Gesundheitssystem (23 Prozent), Ökonomie (20 Prozent). Einwanderungspolitik (15 Prozent), Sicherheit und Terrorismus (14 Prozent), Beziehung zwischen Briten und EU (14 Prozent), also der Brexit, waren für weniger Menschen wahlentscheidend. Soziale Themen können also Wahlen entscheidend beeinflussen. Und das scheint viele tatsächlich zu überraschen.
Die jungen Wähler – und diese Erkenntnis sollte vor allem die SPD hochschrecken lassen – lassen sich von sozialen Themen und einem gut geführten Wahlkampf überzeugen: 63 Prozent der 18 bis 34-Jährigen haben für Labour gestimmt, nur 27 Prozent für die Konservativen. Bei den 35 bis 54-Jährigen war die Stimmverteilung ausgeglichen, jeweils 43 Prozent für Labour und Tories. Bei den Wählern über 55 Jahren, stimmten nur 23 Prozent für Labour und 59 Prozent für die Konservativen. Einmal mehr zeigt das auch, dass dringend eine Lösung dafür gefunden werden muss, dass Wähler, die älter als 55 Jahre sind, Entscheidungen in der Hand haben, deren Konsequenzen erst jüngere Generationen voll zu spüren bekommen. Auch hier scheint es sich zu lohnen, als Partei Angebote und Wahlprogramme zu schaffen, die für eine junge Generation relevant sind.
Die jungen Wähler haben sich klar entschieden. Quelle: Sky Data | Twitter
Aus einem Grund bieten die Neuwahlen auf jeden Fall Grund, ein wenig aufzuatmen: Trotz zwei furchtbaren Terroranschlägen in den letzten Monaten hat die rechtspopulistische UKEP-Partei sogar noch an Stimmen verloren. Und dass weniger, weil sich die Konservativen, die gleichen Themen zu eigen machten (Teresa May erklärte erst vor ein paar Tagen, dass man im Falle von Terrorgefahr zur Not die Menschenrechte ändern würde, wenn diese eine Verhaftung von Gefährdern nicht möglich machen würden), sondern weil die Labour-Party und vor allem Jeremy Corbyn bereit waren, soziale Themen neu zu besetzen. Auch das kann ein wichtiges Zeichen für den Bundestagswahlkampf sein.
Titelbild: Flickr | Tiocfaidh ár lá 1916 | CC BY-ND 2.0
Mehr bei EDITION F
Brexit, Trump im Weißen Haus, das Erstarken der AFD – was ist nur los?. Weiterlesen
Warum es zu einfach ist, den Brexit auf einen Generationenkonflikt zu reduzieren. Weiterlesen
Erst schwanger, dann arbeitslos – in Großbritannien verlieren tausende Frauen nach der Babypause ihren Job. Weiterlesen