Radio hören wird zu meinem neuen Ritual. Sich eine bewusste Auszeit vom Alltag nehmen, gerne alleine, mit einer Tasse Kaffee oder Tee, zu Hause oder in einer stillen Ecke im Büro, oder im Stau auf der Autobahn.
Vergangenen Sonntag war ich mit einer Freundin im Wald spazieren. Stürmisch war’s, es regnete. Zu meinem Erstaunen spürte ich, wie kurzatmig ich geworden bin. Bergaufgehen und dabei reden: Das fällt mir schwer.
Auf dem Nachhauseweg schaltete ich im Auto das Radio ein und blieb bei einem Sender hängen, den ich normalerweise nicht höre. SWR2. Überhaupt höre ich keine Sender, die eine “2” in ihrem Namen tragen. Auch keine “4”. Das ist etwas für alte Leute. Jedenfalls fesselt mich das Thema des vormals geschmähten Senders. Es geht um Buchvorstellungen. Ich lese gerne und viel. Ich fahre also von Wiesbaden nach Mainz über unsere geschundene Schiersteiner Brücke, die Hessen und Rheinland-Pfalz mehr schlecht als recht miteinander verbindet. Der Regen prasselt aufs Autodach. Die Stimme im Radio unterhält sich mit einer Literaturkritikerin über das Buch “Wir sehen uns am Ende der Zeit” der Holländerin Miek Zwamborn. Ich fühle mich behaglich, mein Atem geht ruhig und aufmerksam lausche ich dem Dialog zwischen Studiomoderatorin und Literaturkritikerin. Inzwischen habe ich die Autobahn verlassen. Noch eine Ampel, ich biege links ab. Gleich bin ich zu Hause.
Die Moderatorin leitet zum nächsten Buch über, dem neuen Roman von Orhan Pamuk. “Diese Fremdheit in mir.” Ich liebe die Werke von Orhan Pamuk, denn er schreibt über Istanbul. In seiner Erzählweise schwingt stets jene wunderschöne Melancholie mit, die für mich Istanbul ausmacht. ich bin jetzt auf dem Parkplatz vor meinem Wohnviertel angekommen. Eigentlich sollte ich den Zündschlüssel abziehen und aussteigen. Die Fahrt ist zu Ende. Aber ich bin neugierig: Wovon handelt der Roman? Ich höre mir noch eine kurze Passage aus dem Hörbuch an, welche ein jetzt männlicher Moderator seiner Besprechung voranstellt.
Ich beeindruckt von den verschiedenen Darstellungsformen, mit denen der Sender uns Hörer durch das Programm führt. Ich genieße den Ausschluss meines Sehsinns und die Konzentration aufs Hören. Das genaue Zuhören schafft eine große Intimität zwischen mir und dem Sprecher, wie es die rasch wechselnden Einblendungen im Fernsehen niemals vermögen würden.
Ich finde: Wir sollten uns öfter die Zeit nehmen, mit ungeteilter Aufmerksamkeit einer Sendung im Radio (oder auch einem Musikstück, einem Hörbuch) zu folgen, statt unsere Sinnesorgane mit verschiedenen Screens, die wir oft auch noch gleichzeitig verwenden, immer wieder aufs Neue zu überfrachten. Als Kinder, als wir noch nicht zur Schule gingen, spielten unsere Ohren eine wichtige Rolle für die Aufnahme von Informationen und das Erlernen unserer Muttersprache. Für mich ist das Radio weit mehr als ein pures Begleitmedium, das im Hintergrund unbeachtet vor sich hin dudelt. Und das Buch von Orhan Pamuk kauf’ ich mir.