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Der nächste Schritt in Richtung absolute Kontrolle

Ein einfacher Bluttest, der Schwangeren Auskunft über Erbschäden ihres ungeborenen Kindes gibt, soll bald Kassenleistung werden.

 

Ein Tropfen Blut der Mutter reicht

Aus medizinischer Sicht ist das ein Durchbruch: Die deutschen Krankenkassen wollen schon bald die Kosten für einen Bluttest übernehmen, der werdenden Eltern völlig risikolos Informationen über Chromosomenschäden ihres ungeborenen Kindes gibt.

Die ZEIT fragt in ihrer aktuellen Ausgabe: „Ist das der erste Schritt zu einer Gesellschaft ohne Menschen mit angeborener Behinderung?“ Die Antwort darauf ist ein ganz klares: Nein, es ist nicht der erste. Es ist ein weiterer Schritt.

Fakt ist: Schon heute gehört es zur Vorsorgeroutine in der Schwangerschaft, das ungeborene Kind auf Behinderungen und Erbkrankheiten zu untersuchen – wer das nicht möchte, der muss sich darüber früh genug klar werden und explizit darauf hinweisen, dass er auf diese Untersuchungen verzichten möchte – damit gilt man bei den meisten Frauenärzten heute schon als Exot; bei Schwangeren entsteht das Gefühl, etwas zu versäumen, wenn man die Untersuchungen nicht machen lässt.

Mehr als 90 Prozent der Kinder mit Down-Syndrom werden abgetrieben

Ich kann an mir selbst beobachten, wie sehr ich das verinnerlicht habe: Bei den ein, zwei Begegnungen, die ich in den letzten Jahren mit kleinen Kindern mit Down-Syndrom hatte, zufällig auf dem Spielplatz, beäugte ich die Eltern mit einer komischen, unangenehmen Mischung aus Bewunderung und Perplexität. Dass heute eine Frau ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt bringt, gleicht schon fast einem ungeheuerlichen Vorgang.

Es gibt dazu keine genauen Zahlen, aber Schätzungen zufolge brechen mehr als 90 Prozent der Schwangeren, die die Diagnose Trisomie 21 für ihr Kind bekommen, die Schwangerschaft ab. Das Aufspüren von Fehlbildungen des ungeborenen Kindes ist schon seit Jahrzehnten Routine, die Methoden werden bloß immer ausgefeilter. Schwangeren wird derzeit von ihren Frauenärzten empfohlen, um die 12. Schwangerschaftswoche herum per Feinultraschall die so genannte „Nackentransparenzmessung“ durchführen zu lassen. Dazu kann man optional noch Blutwerte bestimmen lassen, die das Ergebnis exakter machen sollen. Anschließend erhält man eine Aufstellung mit Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Behinderungen wie zum Beispiel das Down-Syndrom. 1:10.000 wäre beispielsweise ein prima Wert, denn das würde bedeuten, dass das Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 10.000 zu eins gesund ist. Ab einem Wert von etwa 1:300 wird der Frau zu einer Fruchtwasseruntersuchung geraten, durch die eine definitive Diagnose gestellt werden kann.

Was sich viele nicht bewusst machen: Selbst bei einem Ergebnis von 1:100 wird nur eines von 100 Babys, deren Mütter dieses Ergebnis bekamen, mit der entsprechenden Fehlbildung auf die Welt kommen. Die Fruchtwasseruntersuchung wiederum birgt Risiken, bei etwa einer von 100 Untersuchungen kommt es zu einer Fehlgeburt. Der neue Bluttest soll all das bald unnötig werden lassen: Durch die Untersuchung eines Tropfens Mutterblut können Chromosomenanomalien beim Kind fast zweifelsfrei und für die Schwangeren völlig risikofrei und komfortabel festgestellt werden. Die Krankenkassen in Deutschland werden die Kosten für diesen Test bald schon übernehmen, natürlich wird er so bald Standard in der Schwangerschaftsvorsorge sein – das ist ein logischer Schritt in einem schon lange dauernden Prozess.

Haben wir uns auf eine “slippery slope” begeben?

Das Magazin “dummy“ brachte vor vier Jahren eine Ausgabe mit dem Thema „Behinderte“ heraus – damals habe ich für eine Geschichte Befürworter und Kritiker der Pränataldiagnostik getroffen, um darüber zu sprechen, was die immer ausgefeilteren Möglichkeiten der PND für unsere Gesellschaft bedeuten. Wir sprachen über Selektion, über das Selbstbestimmungsrecht der Frau, und über die Frage, ob unsere Gesellschaft eine Kälte gegenüber unperfektem Leben entwickelt hat, die es Schwangeren unmöglich macht, sich trotz einer solchen Diagnose für ihr Kind zu entscheiden. Der Medizinprofessor Axel Bauer, damals Mitglied des Deutschen Ethikrats und erklärter Gegner der PND, argumentierte damals mit einem moralphilosophischen Klassiker, dem „slippery-slope“-Argument: Seiner Ansicht nach hätte man mit den Methoden der Pränataldiagnostik erst gar nicht beginnen dürfen, weil man auf der schiefen Ebene nun immer weiter in eine falsche Richtung schlittere und es bei der Selektion menschlichen Lebens keine Grenzen mehr gebe. Für ihn muss dieser neue Test als Kassenleistung ein absoluter Alptraum sein.

Ein einfacher Test, ein Tropfen Blut, und dahinter steht ein so riesiger Berg unlösbarer Fragen und Konflikte: Führt der medizinische Fortschritt tatsächlich zu einem gesellschaftlichen Klima der Kälte? Eliminieren wir behindertes Leben, weil wir nicht nur unser Leben, sondern auch unsere Kind perfektionieren wollen? Gibt es ein Recht auf ein gesundes Kind? Der Pränataldiagnostiker Michael Entezami, mit dem ich damals sprach, konnte die Kritik an der Pränataldiagnostik nicht nachvollziehen: „Mehr als hunderttausend Frauen treiben in Deutschland jedes Jahr aus persönlichen Gründen ab, weil es im Job gerade so gut läuft oder der Mann der falsche ist. Das ist auch ihr gutes Recht. Genau so kann und darf ein schwerstbehindertes Kind ein Grund für einen Abbruch sein“ sagte er, und: „Mein Auftrag ist die Aufklärung. Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ist das Wichtigste.“ In einer Sache aber waren sich Bauer und Entezami, ansonsten erbitterte Gegner, einig: Die Stimmung in unserer Gesellschaft sei offenbar so, dass Eltern größten Wert auf ein gesundes Kind legen und ein behindertes unbedingt vermeiden wollen.

Nie wurde für behinderte Menschen so viel getan wie heute

Das Paradoxe: Noch nie wurde so viel Wert auf die Gleichberechtigung, ein unabhängiges Leben, Bildungschancen und die medizinische Versorgung behinderter Menschen gelegt wie heute, Stichwort: Inklusion. Und parallel dazu wird so viel wie nie getan, dass Menschen mit Behinderung nicht geboren werden. 97 Prozent aller Kinder kommen gesund zu Welt. Bluttest hin oder her – man könnte ein bisschen zynisch feststellen: Menschen mit Behinderung werden uns nicht ausgehen: Fast alle Behinderungen entstehen erst nach der Geburt, im Laufe eines Lebens – durch Unfälle, Schlaganfälle, Krankheiten. Das nennt man Schicksal. „Deutlich wird, wie die stetig perfektionierte Erfassung betroffener Föten dem – zunehmend privatisierten und kommerzialisierten – Medizinbetrieb eine Definitionsmacht darüber eröffnet, was lebenswert und normal ist. Die Handlungsmaxime lautet: Behinderung gilt es zu vermeiden, Normalität hat Vorrang vor Besonderheit“, schreibt die Pädagogikprofessorin Marion Baldus.

Noch mehr dieser schwierigen, manchmal schier unerträglichen Fragen, weil man nicht weiß, wie man sich zwischen persönlichen Bedürfnissen (auch ich will lieber ein gesundes Kind als ein behindertes) und Vorstellungen einer guten Gesellschaft (Ich will in keiner Gesellschaft leben, in dem behinderte Kinder als vermeidbarer Unfall gesehen werden) positionieren soll: Herrscht in unserer Gesellschaft allen Ernstes ein Klima, in dem sich Eltern für ein behindertes Kind rechtfertigen müssen? Geht es bei der Pränataldiagnostik tatsächlich um Entscheidungsfreiheit – ist die überhaupt noch gegeben in einer Gesellschaft, in der viele der Meinung sind, ein behindertes Kind „muss heute nicht mehr sein“? Oder geht es vor allem um den Egoismus der Eltern? Es ist ja nicht so, dass Eltern sich gegen ein behindertes Kind entscheiden, weil sie dem Kind sein behindertes Leben ersparen wollen. Man kann es schließlich vorher nicht fragen. Es geht doch vielmehr darum, sich selbst das Leben mit diesem behinderten Kind zu ersparen. Man traut es sich einfach nicht mehr zu, da ist die Angst, daran zu zerbrechen. Wenn mein Kind mit zwei Jahren von einem Auto überfahren wird und im Rollstuhl sitzt, werde ich es selbstverständlich behalten – es gibt ja auch keine Alternative. Bei einem wenige Monate alten Fötus kann man sich noch entscheiden für ein Leben mit weniger Entbehrungen.

Wird schon alles in Ordnung sein

Was auffällt in der Berichterstattung zum Thema ist, dass sie oft aufhört, wenn es unschön wird: Es heißt immer, es gebe diese und jene Möglichkeiten, um diese und jene Behinderung festzustellen. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Schwangeren an die Sache so herangehen wie ich: Man macht die Tests, die der Frauenarzt einem ganz selbstverständlich ankündigt, und denkt: Wird schon alles passen. Schließlich sagt einem der Arzt ja nicht: „Hören Sie mal, wir machen jetzt dieses und jenes, und wenn dann eine Trisomie herauskommt, dann machen wir das Kind halt weg.“ Ohne das zu bewerten: Es gibt kaum Fehlbildungen oder Krankheiten, die man im Mutterleib behandeln könnte – es geht bei diesen Tests ganz klar darum, Kinder mit unerwünschten Fehlbildungen zu selektieren, um sie im Zweifelsfall abzutreiben – als Schwangere aber will man die Tests gern als eine Möglichkeit sehen, sich bestätigen zu lassen, dass alles gut ist. Der Alptraum für die Eltern beginnt, wenn wirklich etwas gefunden wird. Auf Zeit Online ist dazu ein berührendes Multimedia-Dossier erschienen.

Unsere Gesellschaft ist auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne angeborene Behinderungen schon weit – so weit, dass nicht mit einer Umkehr zu rechnen ist – medizinischer Fortschritt lässt sich nicht zurückdrehen. Die Einführung des neuen Tests als Kassenleistung ist einfach konsequent. Der Test wird es werdenden Eltern noch schwerer machen, sich der routinemäßigen vorgeburtlichen Fehlersuche zu entziehen – falls sie das möchten.

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