Während Sibylle Berg am zweiten Teil ihrer Trilogie arbeitete, sprachen wir mit ihr über die Recherche, das Schreiben und den Weg in die Öffentlichkeit. Heute erscheint RCE. #RemoteCodeExecution. Hier lest ihr einen Auszug aus dem Buch – und wir versprechen: Das wird euch nicht reichen.
Sibylle Bergs neuer Roman setzt da an, wo „GRM“ endet – in unserer neoliberalen Absurdität, in der das Individuum machtlos scheint. Der Kapitalismus ist alternativlos geworden. Das beste aller Systeme hat Wenigen zu absurdem Reichtum verholfen und Vielen ein menschenwürdiges Dasein genommen. Die Krise ist der Normalzustand, Ausbeutung heißt nicht mehr „Kolonialismus“, sondern „Förderung strukturschwacher Länder“. Inflation, Seuchen, Kriege, Diktatoren, Naturkatastrophen, Müllberge. Was die Menschheit eint, ist die Todessehnsucht. Die Lage scheint ausweglos.
Doch in einem abhörsicheren Container brennt noch Licht. Fünf Hacker programmieren die Weltrettung.
„Wie hält man die Fragmentierung des Denkens aus, die wir durch Endgeräte erfahren, wessen Interesse ist es, uns dauernd mit Hass und Bullshit beschäftigt zu halten, wem nützt die Panik, die Angst?“
Anfang des vergangenen Jahres sprachen wir mit Sibylle Berg über das Schreiben. Darüber, wie eine Idee zu einem Buch wird. Warum sie dann doch lieber Autorin als Wissenschaftlerin geworden ist. Und dass der Begriff der Dystopie als Kategorie in der Literatur viel zu schnell zurückgegriffen wird. Statt einfach mal hineinzusehen – in die Realität: „Alle [in GRM beschriebenen] Technologien gibt es bereits, sie werden eingesetzt. Das Elend gibt es, wenn man es sehen will, die Menschenverachtung von Regierungen und Plattform/Finanz/Kapitaleignern gibt es auch schon. Ja, also keine Ahnung, was daran dystopisch ist.“
RCE. #RemoteCodeExecution – der Anfang
Irgendwann
Später.
Liegt da ein Mann in seiner zu kalten Wohnung.
Na ja, Wohnung.
Also.
Da liegt er, in einem Bärchen-Pyjama, unter einer Ge-
wichtsdecke – die ist, neben Psychopharmaka, Single-
plattformen und Alkohol, ein weiterer geldwerter Vorteil
der codegesponserten Massenvereinsamung, statt eines
Menschen oder Hundes decken die Leute sich mit kilo-
schweren Textilien zu.
Sie nennen es Kuscheln.
Der Mann in seiner zwangsbelüfteten, ökologisch-grünen
Unterkunft steht kurz vor dem Erwachens-Impuls, den
Nanobots dem betreffenden Gehirnareal geben werden.
Sie sind noch nicht so genau, die kleinen Biester, ab und
an läuft etwas schief, aber –
der Moment des Halbschlafs ist stets ein somnambules
Fest, wie das Leben, das wir feiern sollten.
Mitten im nebligen Raum zwischen Traum und Realität
vermeint der Mann eine Stimme zu hören:
»Geht es dir gut, an diesem Morgen?« Sagt sie. Und
»Es ist ein wunderbarer Tag. Es regnet.«
»Das magst du, dann kannst du dein Homeoffice genießen.
Solange es noch da ist, solange du noch ein inneres Office
hast, denn dein Beruf als – egal – wird gerade ausgelagert.
Du wirst
heute vermutlich wütend werden«, sagt die Stimme
»Es wird fast jeder wütend im Moment. Wegen der unglaub-
lichen Zumutungen, die so ein Leben mit sich bringt. We-
gen dieser – nennen wir es – Ohnmacht, die dich begleitet
bei allen Verrichtungen.
So ein Ärger, wenn sich die Türen der Tram nicht öffnen,
einem Fehler des Bezahlsystems geschuldet.
So ein Hass. Wenn das Smartmeter dir ein Stromver-
schwenden bescheinigt und dir das wöchentliche Duschen
mit warmem Wasser verwehrt.
Und wenn dein Tele-Arzt nicht erreichbar ist, weil die
Analyse deiner Daten den Schluss zulässt, dass du mit dei-
ner Existenz ein marktwirtschaftliches Desaster performst,
ist das wirklich –
unerfreulich. Aber
bei der Rettung des Planeten müssen wir alle zusammen-
halten.
Solidarisch sein.
Solidarisch sein.
Solidarisch sein.«
Hoppla, ab und zu hängt das Programm.
»Dann
sind wir hilflos – was auch tun, wen
anrufen, wohin eine Mail senden, wo demonstrieren und
mit wem? Und außerdem –
wird geäußerter Unwille mit dem Einzug deiner digitalen
Vermögenswerte bestraft.
Vermögenswerte. Der war gut.
Du vermagst – nichts.
Außer dein Leben zu feiern.
So ein Leben, das ist schon was, kannst du sagen und tief
durchatmen. Die Luft ist so gut, seit alle Rad fahren.
241.364 neue Menschen werden heute die Erde betreten,
und im gleichen Moment vergessen sein, aber – sie wer-
den alle Rad fahren, wegen des Klimas, und sie werden es
bewusst tun.
Apropos. Du hast dich gut ernährt gestern, dein Magen
meldet den Verzehr von etwas, das du für einen Insekten-
Burger gehalten hast.
Du hast trainiert.
Mach weiter, sonst wirst du einer der 1.712.325.934 über-
gewichtigen Menschen auf der Erde oder einer der
786.067.272 Fetten – hoppla, korrekter: der Menschen mit
einem unausgewogenen Gewichts-Fett-Anteil,
die keinen Zugang zu den Gesundheitsdiensten mehr hab-
en.
Du wirst an diesem wunderbaren Tag deine
eigenverantwortliche Psychohygiene in den sozialen Netz-
werken ausleben, und einige der 518.807.449 Einträge auf
der Massenablenkungswaffe Twitter oder sonst wo –
ins Nichts senden.
Wenn du dich solidarisch, solidarisch, solidarisch,
hoppla,
verhältst,
steht dir ein elektronischer Hund zu.
Und nun – geht es los –
Hast du Angst? Viel Angst?«
Willkommen
im
fortgeschrittenen Jahrtausend!
Es würde als »Zeit des Wandels« in die Geschichtsbücher
eingehen. Wenn es später noch Bücher geben würde. Oder
eine Geschichte. Oder eine Welt.
Draußen schien alles ruhig.
Die neue Technologie, der Segen der Menschheit, würde
der Ausweg aus Gewalt, Hass, Ungerechtigkeit und Klima-
katastrophen sein.
Hoffentlich.
Nach zweihundert Jahren Fortschritt, der den Menschen
so viel Gutes gebracht hatte – Strom und Wohnung und
Konsum gegen Aufstände –, war der Planet am Ende und
konnte nur durch die Entfernung der Menschen repariert
werden –
(Hier erklingt ein kleiner esoterischer Healing-Song, mit
Delfinen.)
Es gab zu viele Leute, die alle etwas wollten.
Leben zum Beispiel.
Doch das Gefühl des Untergangs war immer vorhanden,
so verzweifelt sie auch mit Netzen Plastik aus dem Meer
fischten. Sosehr sie versuchten, die Tiere, die auf dem
Plastik über die Meere krabbelten und wackelten, um in
einem neuen Zuhause einen invasiven Job zu erledigen, zu
lynchen.
Sie versuchten, Mauern gegen die, sagen wir,
Natur
zu bauen. Und klonten Tiere, um sie danach beim Ausster-
ben zu beobachten.
Der Himmel erleuchtet von Explosionen im All – da kol-
lidierten chinesische Schallraketen mit den Satelliten, die
Milliardäre ins All schossen, um das Internet zu retten, das
am Boden zusammenbrach.
Das schöne Internet.
Die Bevölkerung der westlichen Länder teilte sich in
die dicke Mehrheit und die fitte Minderheit. Die Dicken,
die Adipösen, Diabetiker, herangezüchtet durch all das,
was man Nahrung nannte. In Pappkartons lag das Zeug,
nicht einmal in Regale mit netter Beleuchtung wurde es
geordnet. Der nächste Schritt wäre, den Leuten Zucker,
Fett, Hormone und Pestizide einfach in die Venen zu
spritzen.
Für Konzerne, also Aktionäre, hatte die Wissenschaft er-
forscht, wie viel Zucker und Fett und Dreck so ein Körper
erträgt, und wie lange es sich für das Wachstum rentiert,
den Organismus am Leben zu erhalten. Siebenhundert-
sechzig Milliarden hatten die Aktionäre mit Insulin ver-
dient.
Das schöne Geld.
All das schöne Geld für die privaten Krankenhausketten,
all die armen Leute, die da mit den amputierten Beinen
hockten und glaubten, was ihnen von Aufstieg und Glück
der kleinen Leute berichtet worden war.
Die Kranken, Langsamen, Dummen, die Alten, die Unnüt-
zen, die,
die es anders gekannt hatten, die vom Krieg erzählten und
sich doch darin befanden.
Bad News: Sie hatten verloren. Der Feind musste nicht ein-
mal kämpfen. Er war einfach – durchspaziert. Der neue
Mensch. Mit Coding und Fremdsprachenkenntnissen, mit
virtuellen Brillen liefen sie gegen Laternen und sagten: »Ich
unterscheide nicht zwischen Leben im Netz und Real Life.«
Die Fitten, die ihr Humankapital in Form halten,
fanden ihr Leben fantastisch. Sie filmten sich beim Fantas-
tischfinden. Sie hatten nichts zu verbergen. Ihre Vorbilder
waren Konzernchefs, Milliardäre, Macher, mutige Männer.
Von denen sie radikalisiert worden waren.
Training und Nahkampf, Diät und Orthorexie.
Die westlichen Kleinbürgerkörper verformt und kurz
vor dem Zusammenbruch, der Anspruch, zu einem
genormten, energiegeladenen, einheitlich funktionierenden,
beschäftigten Konsumkörper zu werden, am Rand des
Wahnsinns.
Kaum eines mit einem Gefühl außer ständiger Panik.
Und dem Bewusstsein der eigenen Individualität.
Jedes mit seiner Identität, seiner Nationalität, Regionalität,
seiner Religion und seiner Generation, seinen Vorlieben
und Abneigungen, gegen den Rest.
Da gehörte keines zu irgendwas.
Außer zur großen Klasse der Betrogenen. Der Tagelöhne-
rInnen, der armen SchluckerInnen, der Arbeiterklasse, die
sich aber nicht mehr als Klasse verstand, zu der keiner ge-
hören wollte, zu der fast alle gehörten. Sie strengten sich
so an, alles richtig zu machen. Den Planeten zu retten, zu
sparen, auf alles zu verzichten, aber – da war kaum noch
etwas, was verzichtbar wäre, außer – man stürbe ökolo-
gisch.
Mit den Resten ihrer Wut, ihrer Verzweiflung angesichts
Lebens, das doch nicht einmal mehr ein bisschen Spaß
machte, gab es an allen Orten, in allen Ländern, immer
wieder Aufstände, Demonstrationen, Unruhen, die erfolg-
reich und mit zunehmender Brutalität niedergeschlagen
wurden.
Wir nennen es: »Die Schraube anziehen.«
Einen Halt gab es nicht mehr für die Leute am Rand
der sich öffnenden Böden. Sie taumelten, strauchelten,
schrien Befehle in ihre smarten Geräte, wenigstens jeman-
dem etwas befehlen. »Hauptsache: Arbeit«, stöhnten sie
und schleppten sich in Großraumbüros, in denen sie be-
schäftigt wurden, mit der Programmierung dessen, was
sie unnütz machen würde. Sie digitalisierten bis in den
letzten Winkel jeden Bereich des Lebens, vergessend, was
wohl passierte, wenn der Strom ausblieb.
Oder die AI wirklich den Verstand aller Menschen über-
treffen wollte. »AI – gestalte eine nachhaltige Welt.« Und
ENTER.
Aber bis es so weit war, lieferten
die Verlierer den neuen, programmierenden Berufstätigen
das ausgewogene Essen, das von anderen Verlierern zube-
reitet worden war.
Die neuen schlanken Menschen hatten geschädigte Ner-
ven – sollten sie nun dauernd Angst haben oder mutig
vorangehen? Sollten sie empfindsam ökologisch sein oder
wachsam?
Man bräuchte einen Neustart. Aber wer sollte das tun?
Und was sollte danach kommen? Wogegen sollte man sein
und kämpfen und anschreien?
Und war nicht jede Zeit den Menschen als die schreck-
lichste erschienen? War es nicht immer weitergegangen?
Dank der Innovationskraft, der Technologien, des Welt-
raumes und des Gottes –
Immerhin konnten sie noch wählen, die Leute.
Zwischen Produkten oder Parteien, die sie mehr oder ein
bisschen weniger verwalteten. Sie hatten das Recht, Steu-
ern zu zahlen, und sie durften sagen, was sie dachten und.
Verdammter Mist! Es wusste doch keiner mehr, was er
denken sollte, es war alles – zu viel. Zu viel Netz und Hor-
mone, Panik, Adrenalin und Mitteilungen. Dauernd gab es
Mitteilungen. Und überall waren es dieselben.
RCE erscheint am 5. Mai 2022!
Ihr möchtet jetzt unbedingt weiterlesen? „RCE“ erscheint bei Kiepenheuer & Witsch und kostet 26 Euro. Macht doch gleich einen Spaziergang zur nächsten Buchhandlung.
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