Foto: Gaby Gerster

Sheila de Liz: „Die weibliche Biologie darf kein Insiderwissen sein“

Sheila de Liz klärt auf – als Frauenärztin in ihrer Praxis, in YouTube-Videos und auch als Autorin. In ihrem neuen Buch „Unverschämt: Alles über den fabelhaften weiblichen Körper“ schreibt sie darüber, was Frauen über ihren eigenen Körper wissen sollten und räumt mit Mythen auf.

„Information ist alles, Wissen ist Macht“

Nicht nur in ihrer eigenen Praxis in Wiesbaden klärt Sheila de Liz ihre Patient*innen auf, sondern auch außerhalb der eigenen vier Wände. Die Gynäkologin schreibt in ihren Kolumnen und spricht in ihren YouTube-Videos ohne Hemmungen über den weiblichen Körper. Und das gut verständlich, locker, ungezwungen und vor allem ohne Tabus. Sheila beantwortet alles, was Menschen über gynäkologische Themen wissen wollen und vor allem auch alles, was sie wissen sollten.

Denn sie findet es besonders wichtig, über den eigenen Körper so viel zu wissen wie möglich und schreibt darüber in ihrem neu erschienen Buch „Unverschämt: Alles über den fabelhaften weiblichen Körper“. Schluss mit der Scham! Denn aus Scham resultiert Unwissenheit und daraus wiederum viele Mythen über den Körper, die nicht nur die Gesundheit beeinträchtigen könnten, sondern auch die Lust, den Sex und das Selbstbewusstsein. Schluß damit!

In einem Interview spricht Sheila de Liz über ihre Arbeit als Gynäkologin und warum sie sich dafür einsetzt, dass wir unsere Körper besser kennenlernen.

,Sometimes it takes balls to be a woman‘ – der Spruch steht in deinen YouTube-Videos hinter dir an der Wand. In welchen Momenten hast du dir das schon gedacht?

„Das sind nicht nur Momente – ich denke das jeden Tag! Immer dann, wenn ich erlebe, was Frauen alles leisten: Sie arbeiten, sie managen den Haushalt, vielleicht führen sie eine schwierige Ehe, sie schleppen Kinder zu Ärzt*innenterminen, obwohl sie selbst Fieber haben, sie kämpfen an allen Fronten. Man braucht wirklich ,Eier’, um eine Frau zu sein. Wobei ich nicht verstehe, dass man da von ,Eiern’ spricht, denn die sind weich und verletzlich. Eine Vagina dagegen ist zäh.“

Dass Eier symbolisch für Härte stehen, könnte fast eine der Mythen sein, über die du in deinem Buch aufklärst. Wie entstehen die überhaupt?

„Sie sind zum Teil von Generation zu Generation überliefert worden, manche basieren auf Ängsten oder auf Gerüchten, andere sind emotional gefärbt, ohne jeden sachlichen Hintergrund. Fakt ist: Viele dieser Mythen konnten sich nur deswegen verbreiten, weil Frauen das fundamentale Wissen fehlt. Das muss nicht sein! Ich möchte Werkzeuge an die Hand geben, mit denen die Leser*innen mehr Selbstbewusstsein und innere Ruhe erlangen.“

Du schreibst über ganz unterschiedliche Mythen. Zum Beispiel über Schamlippen, die ganz unterschiedlich aussehen können, das aber in den allermeisten Fällen natürlich ganz normal ist – dennoch sind sich da auch heute noch viele Frauen unsicher. Weit weniger als ein Prozent der Frauen müssen sie aus medizinischen Gründen operieren lassen. Gibt es Mythen, die dich überraschen oder total absurd auf dich wirken?

„Absurd ist nicht das richtige Wort, mir tut es vor allem leid, wenn Frauen so schlecht aufgeklärt worden sind. So glauben viele Mädchen und Frauen immer noch, dass das Jungfernhäutchen eine Art Frischesiegel ist, das durchbrochen werden oder bluten muss. Auch viele Jungs nehmen das Blut als Nachweis, ob das Mädchen Jungfrau war. Dabei blutet bestimmt die Hälfte aller Mädchen überhaupt nicht beim ersten Mal! Ein ganz übler Mythos also, der darauf abzielt, Frauen und ihre Vulva zum Besitz des Mannes oder der Familie zu machen. Ich erkläre darum gerne, dass das Jungfernhäutchen eine flexible Ringhaut ist, die sich anpassen kann wie ein Haargummi.“

Gibt es noch andere Mythen, von denen du schon sehr oft gehört hast?

„Ein weiterer Mythos, der sich hartnäckig hält, ist, dass Frauen einen vaginalen Orgasmus anstreben oder erlernen müssten. Der herkömmliche Geschlechtsverkehr, bei dem der Penis in die Vagina eindringt, ist aber nur zur Fortpflanzung gedacht und nicht, um die Frau zum Orgasmus zu bringen! Frauen sind mehr als eine Vagina. Da ist eine Klitoris dran, da sind Brüste dran, da sind Hände und Füße dran, die gestreichelt und massiert werden wollen.“

In deinem Buch geht es auch um Hormone, Brüste, Geschlechtskrankheiten, Verhütung und Co. Wieso ist es dir so wichtig, dass Frauen sich mit diesen Themen auseinandersetzen?

„Schambereich, Schamhügel, Schamlippen – unser Unterleib ist schon sprachlich mit viel Scham besetzt. Viele Frauen trauen sich nicht nachzufragen, wenn es um das Aussehen ihrer Genitalien oder ihre Sexualität geht. Sie würden sich aber besser fühlen, wenn sie mehr darüber wüssten. Meine Mission ist es, Frauen aufzuklären, sie quasi upzugraden in den VIP-Bereich der Gynäkologie. Nur so können sie die Kontrolle über ihr Leben und ihre Gesundheit zurückgewinnen.“

Was muss sich denn ändern, damit Frauen offen über ihre Sexualität sprechen können und die Scham ablegen?

„Information ist alles, Wissen ist Macht! Frauen, die ihren Körper nicht kennen, sind anfälliger für Angriffe von außen. Seien es Fehlinformationen, seien es geringschätzige Bemerkungen zu ihrem Geschlecht – oder wenn es darum geht, ihnen Intimsprays und Slipeinlagen ,mit Duft‘ zu verkaufen, weil mit ihrem Geschlecht angeblich etwas nicht stimmt. Wenn wir hingegen Profis im Umgang mit uns und unserer Sexualität sind, können wir relaxed über alles reden, was uns stört, verbal äußern, was wir wollen, und Angriffe von außen (,Meine Ex-Freundin kam immer zum Höhepunkt, nur du nicht, du musst zum Arzt …‘) selbstbewusst abwehren.”

„Information ist alles” – bist du deswegen auf die Idee gekommen, auch außerhalb der eigenen Praxis aufzuklären und zu informieren?

„Frauen wissen viel zu wenig über ihren Körper, das erlebe ich täglich in meiner Praxis. In den USA haben sich nur 26 Prozent aller Frauen jemals ihre Genitalien angesehen. Unvorstellbar! Und machen wir uns nichts vor: Auch in Europa hat die weibliche Intimzone einen schweren Stand. Vor einiger Zeit bin ich bei einer Fortbildung auf Mallorca einer Dermatologin begegnet. Mit ihr habe ich über Wechseljahre, Hormone und solche Themen geredet – bis sie schließlich sagte: ,Mensch, Sheila, das musst du alles aufschreiben!‘ Sie hat mir den Kontakt zur Freundin-Redaktion verschafft – das war mein Einstieg als Kolumnistin. Als mein Verlag auf mich zu kam und fragte, ob ich Lust hätte, ein Buch zu schreiben, hat das wunderbar gepasst.“

Dein Buch passt auch wunderbar zu dir – du verlierst nicht den Ton aus deinen Videos, sondern bleibst bei verständlichen Erklärungen ohne zu viele medizinische Begriffe.

„Die weibliche Biologie darf kein Insiderwissen sein. Das ist alles gar nicht so schwierig! Wer einer Netflix-Serie folgen kann, kann auch die Basics der Frauenmedizin verstehen. Ich möchte Frauen ,empowern‘, damit sie so gut mit sich umgehen, wie sie es verdient haben. Es wäre schön, wenn sie die Angst vor ihrem Körper verlieren und ihn wirklich verstehen würden.“

Auf deiner Internetseite kann man dir anonym alle Fragen rund um den weiblichen Körper stellen. Gibt es Fragen, die sehr häufig vorkommen?

„Warum habe ich keine Lust mehr auf Sex? Woher kommen die Schmerzen? Warum nimmt mich mein Arzt nicht ernst, wenn ich hormonelle Störungen habe? Wie kommt es, dass ich ständig Harnwegsinfekte oder Pilzentzündungen bekomme? Das sind Fragen, die mir häufiger gestellt werden. Fast noch wichtiger sind aber die Fragen, die nicht gestellt werden und die ich deshalb in meinem Buch beantworte. Zum Beispiel: Sehen meine Schamlippen normal aus? Warum riecht es da unten wie an der Nordsee? Muss ich mich rasieren, bevor ich zum Frauenärzt*in gehe? Ganz nebenbei: Das ist uns Ärzt*innen piepegal.“

Frauen sind bei ihrem Frauenarzt oder ihrer Frauenärztin meist zu schüchtern, um solche Fragen zu stellen. Wie schaffst du es, dass deine Leser*innen oder auch deine Patient*innen dich als Freundin sehen, dir vertrauen und dir ohne Hemmungen intime Fragen stellen?

„Ich ermutige sie durch meine Offenheit. Wenn sie sehen, dass ich so bin wie sie, dass wir dieselbe Sprache sprechen und ich Vagina, Vulva, Klitoris, Penis, Pimmel oder Mumu sagen kann, ohne mich unwohl zu fühlen – dann tauen sie auf und merken: Okay, hier ist ein sicherer Raum, hier wird mir alles erklärt. Eine meiner Patientinnen hat mal gesagt: ,Du bist die Jamie Oliver der Gynäkologie.‘ Das war für mich ein Riesenkompliment.“

Du schreibst in deinem Buch, dass die Klitoris lange Zeit weitgehend von der Wissenschaft übersehen wurde. Wird die Frau in der Medizin ignoriert?

„Anders lässt es sich kaum erklären, dass die Klitoris noch bis Ende der Neunzigerjahre als eine Art ,Mini-Penis‘ galt. So habe ich das als Medizinstudentin in Mainz gelernt. Erst 1998 fand die australische Urologin Helen O’Connell heraus, dass die Klitoris keine kleine Perle ist, sondern ein verzweigtes Organ, mit Verbindungen zur Harnröhre und zur Vaginalwand. Wie konnte das so lange übersehen werden? Auch in Bezug auf die Wechseljahre gibt es große Defizite. Viele hängen immer noch dem Glauben an, dass die Frau da eben durch müsse. Aber das stimmt nicht! Frauen leiden nur, wenn wir nicht über die Wechseljahre sprechen, wenn wir die gesundheitlichen Gefahren ignorieren und totschweigen. Wir wissen heute, dass Frauen durch den Hormonmangel anfälliger sind für Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Diabetes. Mit einer vernünftigen Frauenmedizin in der Lebensmitte könnten viele dieser Krankheiten vermieden werden.“

Wenn nicht in einem Medizinstudium oder im Sexualkunde-Unterricht, wann und in welchem Umfeld sollte mehr über den weiblichen Körper gesprochen werden?

„Nicht nur die Schule ist hier gefragt. Liebe Mütter, erklärt euren Töchtern, was für ein Wunderwerk ihr Körper ist! Wir sollten uns gegenseitig feiern als Frauen! Nur so setzen wir Signale für die kommende Generation. Es geht darum, unser Frausein selbstbewusst und ohne Angst oder falsche Scham zu genießen.“

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